Irgendwo über dem Regenbogen. Sagt ein Lied. Wir kennen die Bedeutung dieser Worte nicht. Aber es bleibt ein Funken Erinnerung. Die Einsamkeit mit der wir in den Tod gehen, lässt sich auch mit noch so vielen Ersatzspielern niemals ganz entkräften. Die Bedeutung dieser Worte verstehen wir erst, wenn es akut wird. Wenn das Brennen in den Augen nicht mehr aufhört. Wenn das Heben einer Hand zum fast unüberwindbaren Versuch wird. Und einige unter uns lächeln darüber. Das sind die wirklich Glücklichen. Doch den meisten stehen Tränen in den Augen.
Ich sehe aus dem Fenster. Über der Stadt, die noch im Dunkeln liegt, beginnen die Autos ihren Tag. Die Lichter strömen und es erinnert, wenn man es im Zeitraffer betrachtet, an einen Blutkreislauf. Und die Ampel, die auf Rot springt, ein Arzt könnte ihre Funktion bestimmt erklären. Es sind schon eine Menge Autos, für diese frühe Stunde. Und solange die Gesellschaft noch einigermaßen funktioniert, wird das so bleiben. Und bei diesem Blick aus dem Fenster wird mir klar, dass es bei all den vorbeirauschenden Lichtern keine Menschen gibt. Zumindest bis der Himmel aus dem Schwarz heraus fällt. Die Entfernung ist einfach zu groß. Aber das Land beginnt allmählich nach Kaffee zu duften.
Im Fernsehen haben sie neulich wieder gesagt, dass täglich 24000 Menschen verhungern. Täglich. Was für ein seltsames Wort. 24000 Tage. Das sind gut 67 Jahre. Ein durchschnittliches Menschleben. Das neue Rentenzeitalter. Eine geschickte Propagandaparole der modernen Zeit. Meinem Blick fällt es schwer, sich an die frühe Autostunde zu gewöhnen. Aber das scheint normal. Denn eine Gewöhnung kann nicht einsetzen. Jedes mal, wenn man denkt, jetzt ist es so weit, wird es hell und alles ist wieder anders. Und die Unsicherheit der Nacht wird mir schlagartig bewusst. Doch damit nicht genug. Denn am Abend, wenn man wieder glaubt, jetzt aber, beginnt es von vorn.
Wie konnte ich nur vergessen, dass Menschen in diesen Autos sitzen. Nur weil ich sie nicht sehe, heißt das nicht, dass sie nicht da sind. Und ich stelle mir das Innere eines Autos vor. Wie jemand das Lenkrad hält. Jemand, der mit einem Kaffeeatem und beleuchtetem Tacho vielleicht an den kommenden Tag denkt. Oder an den Streit, kurz vor dem Verlassen seiner Höhle. Oder an das seltsame Geräusch, das der Wagen macht. Und das nicht normal klingt. Viele telefonieren auch schon. Die ersten Krankenwagen sind unterwegs. Selbst die Kinder müssen los. Hab ich der Frau gesagt, dass ich sie liebe? Die Autos sind sicherer geworden. In den letzten 24000 Tagen.
Das Statistische Bundesamt gibt bekannt: „Im Jahr 2008 wurden in Deutschland nach vorläufigen Ergebnissen 4467 Menschen im Straßenverkehr getötet. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, gab es seit 1950, dem Jahr, für das erstmals seit dem zweiten Weltkrieg wieder Zahlen vorlagen, noch nie so wenig Verkehrstote.“
Seit dem zweiten Weltkrieg. Was für ein seltsamer Satz. 4467 Menschen. In einem Jahr. Noch dazu im Jahr der großen Krise. Mittlerweile ist es hell geworden. Der Himmel trägt ein zartes Babyblau mit einem leichten Rotstich darin. Die Bäume haben keine Blätter mehr. Was in einem bevorstehenden Winter aber nicht unnormal wirkt. Das Schicksal legen wir in die Hände der Städtischen Ampelführung. Die rosa Wolken lassen mich kurzzeitig vergessen. Aber die Farben bleiben nicht konstant. Anders, als die Waschmittelreklame verspricht. Wir wollen ja daran glauben. Auf dem Ast sitzt eine Taube. Sie sieht mich an. Ihren Kopf dreht sie dabei hin und her. Und ist auch schon verschwunden. Die Dohlen fliegen. Ihr Rufen liegt im Wettstreit mit den Motoren. Ich halte den Atem an. Aber nur kurz. Im Herauspressen der Luft liegt ein leichtes Schwindelgefühl. Dass sich trotzdem ein Lächeln einstellt, halte ich für unbedenklich. Unbedenklich. Was für ein seltsames Wort. Früher habe ich mehr über Worte nachgedacht. Heute benutze ich sie bloß noch. Die Ironie darin ist offensichtlich. Noch so ein Wort. Draußen sind jetzt Menschen. Man sieht sie deutlich. Einer geht mit dem Hund spazieren. Der beste Freund des Menschen. Ich mag Katzen lieber. Die rosa Wolken sind verschwunden. Ein leichter Wind schaukelt die Bäume. In den letzen Tagen hat es immer wieder geregnet. Aber momentan ist es trocken. Einer der Bäume trägt noch ein paar Restblätter. So wie ich noch ein paar Resterinnerungen an die Nacht trage.
Bevor ich mich dem Tag und der Städtischen Ampelführung anheimgebe, muss noch ein Kaffee getrunken werden. Widerstandslos durchläuft er die Maschine. Ein Geräusch, von dem ich nie genug bekommen kann. Das Ganze würde einen fürchterlich anderen Sinn ergeben, wäre ich Teetrinker. Aber natürlich bleibt das Spekulation. Und ich frage mich ernsthaft, ob mein Leben als Teetrinker anders verlaufen wäre. Den Umständen entsprechend sitze ich hier. Erfülle das Klischee aus Sprache und Existenz. Glaube an die Werbung und verpfusche die Kultur. Das zermarterte Gehirn spricht mich oberflächlich frei, was die Zahl 24000 betrifft. Mittlerweile hocken drei Tauben in den Bäumen. Sie wirken gelangweilt. Ein Postbote fährt mit dem Fahrrad vorbei. Und ich beginne daran zu denken, dass ich mir gleich die Zähne putzen werde. Obwohl ich gar kein Auto habe.
© Ulrich P. Hinz
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