Halbwertszeit Traum (Kurzprosa)

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Vergangene Hoffnung. Neu erschlossen. Wie ein altes, brachliegendes Gewerbegebiet. Die eingeschlagenen Fenster einer erstickten Fabrikhalle. Kurz vor dem Aufsetzen einzelner verspielter Sonnenstrahlen. Die in ihrer Kindlichkeit kaum mehr als eine gewollte Illusion von Natur behaupten. Überall äußerlich tummeln sich Jungpflanzen. Aber das Verspeisen eines Gebäudes dauert. Ähnlich einem gesunkenem Schiff. Dem, obwohl es zeitnah mit dem Meer verwächst, doch immer etwas Unnatürliches anhaftet. Ein Makel, der bleibt. Wie ein Stigma, oder ein Tattoo. Bestenfalls eine Wunde, die zwar verheilt und trotzdem Narben hinterlässt.
Du treibst dich rum in diesen Hallen. Jedes mal wenn du träumst. Oder frisch verliebt bist. Und es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn du nebenbei bemerkst, dass die Freiheit lediglich aus Trümmern besteht. Und dein Lachen darüber findet man oft in den Gesichtern Erhängter. Der Versuch, nach den Sonnenstrahlen zu greifen, läuft nicht immer ins Leere. Ein gelber Löwenzahn klaut deinen Blick. Einvernehmlichkeit im Grenzbereich. Der Schotter unter den Schuhen knirscht wie Butterbrotpapier. Von überall tasten sich Geräusche vor. Und plötzlich steht ein Gesicht am Fenster über dir. Ist aber schon wieder verschwunden. Du erinnerst dich an alte Zeiten. Ein Gefühl, wie ein alter Freund, den du lange nicht gesehen hast. Und es ist gleich so, als hätte man sich nie aus den Augen verloren. Das Fenster hat keine Scheibe. Nur noch ein paar Restsplitter. Der Raum dahinter liegt im Dämmer.

Deine Kindheit ist lange her. Die Bilder haben zwar an Farbe verloren, sind aber noch überall in dir verteilt. Brechen immer wieder auf. Wie eine Wunde, die niemals gänzlich verheilt. Das Sickern des Blutes hält dich anfänglich warm. Du übergibst dich, und der Geruch mischt sich mit dem Gelb des Löwenzahns. Vornübergebeugt beatmest du das stilllebengleiche Endprodukt. Die Reste am Mund werden in den Ärmel geschmiert. Und du schüttelst den Kopf. Wie ein Hund, der gerade aus dem Fluss gestiegen ist und sich das Wasser aus dem Fell schüttelt. Dann geht ein Lächeln durch dich. Und den sauren Geschmack spuckst du einfach aus.

Im Dunkelrot der Backsteine strahlt eine tiefe Geborgenheit. Selbst die angegrünten Jahre haben das nicht ganz herausbekommen. Eine Halbwertszeit, die sich nicht berechnen lässt. Ein Waschprogramm, das versagen muss. Und keine Waschmittelreklame kann so groß lügen. Weltweit. Und mit diesem herrlichen Gefühl gehst du weiter. Da vorn liegt der Eingang. Ein paar Dohlen treiben sich hier rum. Fluchtzugeständnisse werden gemacht. Kurzfristig. Für die Übergangszeit. Und dann gehst du rein. Und es ist anders, als du es erwartet hast. Überall auf dem Boden liegen Scherben. Das hattest du erwartet. Aber es hängen Bilder an den Wänden. Fotos, die dir seltsam vertraut scheinen. Gemaltes, das dich an Van Gogh erinnert. Und Menschen ziehen hier durch. Sie rauchen. Halten Weingläser an ihre Münder. Sprechen leise. Manche lauter. Aber du verstehst den Sinn der Worte nicht. Verlierst dich in den Schatten der Bilder, die keinen Wahrheitswert beanspruchen. Von irgendwo spielt ein Klavier. Und das verstehst du. Der Sinn ist dir klar. Und das Gemälde, vor dem du stehst, ist ein Selbstportrait. Die feinen Züge eines jungen Menschen. Du könntest es sein. Aber das Klavier zieht dich fort. In einen Raum mit einer Bar. Sie ist verlassen, verstaubt und trotzdem versorgt. Und plötzlich steht das Gesicht vor dir. Das Fenstergesicht. Es ist blass. Ernst. Und bevor du erkennst, wieder verschwunden. Hier sind keine Fenster. Nur drei Kerzen, die flackerndes Schattengewebe spinnen. Auf der Theke steht ein Glas mit geschnittenen Zitronen. Du nimmst eine Scheibe und beißt hinein. Durch das Zusammenziehen des Mundes hast du eine Ahnung, was es bedeuten würde, jetzt sterblich zu sein. Und allmählich beginnt es zu schneien. Du streckst die Zunge raus und sammelst ein paar Schneeflocken. Ihr Schmelzen hinterlässt ein leichtes Kribbeln in deinem Gehirn. Der Schnee bleibt liegen. Und deine Schritte beginnen, winterlich zu klingen. Aus deinem Mund kommt Rauch.
In einer großen Halle sitzen Tauben auf den Fenstersimsen In einer Ecke steht eine Schaufensterpuppe. Sie hat eine Zigarette in der Hand und schaut zur Decke. Du folgst ihrem Blick. Ein Lichtspiel wie aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Schattenwesen einer anderen Zeit. Die Puppe ist nackt. Du hast dich auf einen Stuhl gesetzt und wartest still auf Veränderung. Aus reiner Gewohnheit.

Das Klavier hat aufgehört. Aber das bemerkst du erst jetzt. Deine Schuhe sind kalt. Und mit der Kälte kommt eine Müdigkeit. Sie zieht in dich ein, wie in eine Wohnung, in der man schon einmal gewohnt hat. Die Farben sind anders. Aber irgendwie wirkt es vertraut. Und dennoch fremd. Und du weißt, es wird dauern, bis es wieder so ist, wie es war. Wenn überhaupt. Der Weg nach draußen fällt schwer. Das Licht wird schwächer. Du bist allein. Am Eingang hängt ein leerer Bilderrahmen. Du gehst auf ihn zu. Er sieht dich kommen. Du siehst dich kommen. Deine Schritte nehmen noch einmal an Geschwindigkeit zu. Ihr Klang wird dir fremd. Das macht nichts mehr aus. Und plötzlich stehst du davor. Und darin steht das Fenstergesicht. Es ist blass. Aber ihr lächelt.

© Ulrich P. Hinz

Foto von Darius Krause

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