Sokrates guter so … (Kurzprosa)

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Die ganze Sache fing an. Ohne, dass jemand etwas dafür konnte. Man schaute aus dem Fenster. Dachte nichts dabei. In Übereinstimmung mit den kulturellen Gegebenheiten. Ein Mann stand auf dem Bürgersteig. In wartender Haltung. Auf und ab gehend. Mit mürrischem Gesicht. Die Hände in den Manteltaschen. Gelegentlich einen Stein kickend. Die Frau am Fenster sah ihn. 3. Stock. Er wusste nichts davon. Ahnte aber etwas. Wobei es sich hier um eine ganz gewöhnliche, handelsübliche, in jahrelanger Feinarbeit antrainierte Standardparanoia handelte. Wie sie wohl die meisten von uns in irgendeiner verstaubten Ecke irgendeines noch verstaubteren Schrankes stehen oder liegen haben. Die ganze Sache bedarf keiner weiteren Erklärung. Der Mann spuckte auf den Bürgersteig. Die Frau am Fenster war angeekelt davon. Hielt dem Blick aber stand. Sah den Mann plötzlich in einem ganz anderen Licht. Für Fotografen und Filmemacher ist das Licht ja lebenswichtig. Das richtige Licht am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Und der Rest kommt fast von allein. So denkt sich ein Laie die Zusammenhänge vielleicht. Natürlich ist die Sache wesentlich komplizierter. Der Mann hatte es satt, lediglich ein Klischee zu erfüllen. Wobei er einsah, dass man ohne Klischees kaum auskommt. Der Himmel war leicht angegraut.

Die Frau am Fenster biss in einen Apfel. Kaute langsam darauf herum. Hätte fast das Schlucken vergessen. Bemerkte den Reflex. Und würgte. So eine Kehle ist eine überaus komplexe Angelegenheit. Wie viele dieser wunderbaren, komplexen Angelegenheiten im Laufe der Menschheitsgeschichte schon durchschnitten wurden, kann man nur vermuten. Und die würgende Frau am Fenster sah spontan solche Bilder vor dem geistigen Auge. Anschauungsmaterial aus etlichen Filmen lag in den entsprechenden Gedächtnisregionen des Gehirns vor. Da wird ein Messer, gerne ein wunderschönes, glänzendes Rasiermesser (in Großaufnahme) oder aber ein Schwert, jedenfalls ein brauchbares Schneidewerkzeug angelegt. Um dann je nach Regieanweisung und Skript einen schnellen oder langsamen Schnitt auszuführen. Den Schmerz sieht man. Das Glucksen des Blutes hört man. Den Kampf um den letzten Atemzug kann man fühlen. Die Frau hustete. Griff nach einer Wasserflasche. Schraubte sie auf und kippte den Inhalt in die dafür vorgesehene Öffnung. Zwei, drei kräftigte Schlucke. Wenn man bedenkt, dass ein Stück Apfel einer berühmten Märchenprotagonistin fast zum Verhängnis geworden wäre. Aber das Wasser sorgte für die Wiederherstellung der Ordnung. Befreite den Hals. Ließ die Frau aufatmen. Wobei sich ein leichter Lachreflex in die schweren Atemzüge mischte.

Der Mann auf dem Gehweg zündete sich eine Zigarette an. Seine Geduld ging dem Ende entgegen. Aber klischeetechnisch soll Ende ja immer auch einen Anfang beinhalten. Er saugte an der Zigarette wie ein Säugling an der Mutterbrust. Soweit dieses abgegriffene Bild hier überhaupt noch einen Zweck erfüllt. Sein Magen knurrte. Eine Frau kam. Auf Stöckelschuhen. Klock. Klock. Klock. Klock. Ging an ihm vorüber. Der Duft einer halben Parfümerie schwappte in seine Nase. Breitete sich wellenförmig im Gehirn aus. Ließ den Blick ihr nachgehen. Der wackelnde Hintern. Die wallenden Haare. Wie in einem schlechten Werbespot. Wobei das Licht in Ordnung war. Das Set gut gewählt. Zumal die Sonne dezent durch die Wolken sickerte. Als sie um die nächste Ecke bog, fühlte er sich betrogen. Warf die Zigarette auf den Bürgersteig. Sah im Rauch, dass ein leichter Wind ging. Bemerkte irgendeinen Drang. Schluckte ihn runter. Schüttelte den Kopf. Vorsichtig. Wie ein Boxer, der gerade zwei Volltreffer kassiert hatte und auf dem Ringboden versucht, wieder zu auf die Beine zu kommen.

Die Frau vom Fenster saß am Küchentisch. Trank eine Tasse Kaffee. Hing in Gedanken. War sich nicht sicher, was sie wollte. Und das ist das Schlimmste. Daran scheitern die meisten. Gute Ansätze sind ja durchaus gegeben. Aber dann verpufft doch mehr als nötig. In einem ganz gewöhnlichen, nicht wirklich erwähnenswerten, belanglosen Leben. Und das ist auch gut so. Wenn es genügt. Die Frau vom Fenster hatte einen Vogel. Eine Blaustirnamazone. Der hieß Sokrates. Und konnte sprechen. Sie hatte ihn von ihrem Großvater geerbt. Sein Bauer stand auf dem Küchenschrank.

„Ich denke, also bin ich. Örg!“ Die Frau sah zu ihm rüber. Und lächelte. „Hey, Sokrates!“ Der begann mit dem Kopf zu wippen. „Sokrates weiß … Örg …“ Dann begann er, die Deutsche Nationalhymne zu pfeifen. Die konnte sie nicht leiden. „Sokrates, Mozart. Mozart.“ Und er machte die kleine Nachtmusik. Seine Tonsicherheit war meisterhaft. „So ist brav. Guter Sokrates.“ „Sokrates guter so … örg …“ Dann pfiff er die ersten vier Töne der 5. Sinfonie von Beethoven. Sie stand auf, zupfte eine Weintraube und reichte sie ihm. „In vino veritas.“ Sokrates liebte sie.

Der Mann auf dem Bürgersteig sah ein letztes Mal auf die Uhr. Über ihm hing eine steinerne Tafel. Anno Domini 1901. Er hatte sich kurz darüber gewundert. Aber er wunderte sich auch über die Sonne, die immer kräftiger wurde. Das hatte er nicht erwartet. Er hielt die Uhr an sein Ohr. Die ging. Zickezacke Zickezacke Zickezacke … so klingt es, wenn man von der Zeit ausgelacht wird. Er stellte sich auf die Zehenspitzen. Und wieder zurück. Zog die Zigarettenschachtel aus der Tasche. Rauchen kann tödlich sein. Das kann Autofahren auch. Er nahm eine Zigarette. Klopfte sie klischeemäßig auf die Schachtel. Steckte sie in den Mund. Eine Taube landete dicht neben ihm. Schaute neugierig. Stolzierte dann in Taubenmanier über den Bürgersteig. Pickte hier und da. Genoss die Sonne. War einfach Taube. Er beneidete sie. Nahm das Feuerzeug und zündete die Zigarette an. Der Qualm wirbelte um seinen Kopf. Stieg nach oben. Löste sich auf. Wie seine Geduld.

Die Frau vom Fenster spülte. Das mit den Töpfen fiel ihr schwer. Aber die waren auch immer das letzte Gefecht. Im Spülwasser war es noch gemütlich warm. Nicht zu schmutzig. Mit leichtem Restschaum. Sokrates saß auf seinem Bauer und putzte sich. Quietschte gelegentlich etwas. Geräusche, die möglicherweise irgendwie mit dem Urwald in Verbindung gebracht werden können. Kümmerliche Reste einer evolutionären Programmstruktur. Die mittlerweile so viele Updates durchlaufen hatte, dass die meisten seiner Töne nun überwiegend aus modernem Kulturgut bestanden. Wie beispielsweise das Klingeln des Telefons, ein SMS-Signal oder das Fauchen der Kaffeemaschine. Die industrielle Revolution war auch an Papageiengehirnen nicht spurlos vorüber gegangen. Das letzte Gefecht war geschlagen. Sie nahm ein frisches Trockentuch. Ließ das Wasser aus der Spüle und begann abzutrocknen. Viel war es nicht. Sokrates schüttelte sich. Plusterte sein Gefieder auf. Ließ einen Pfiff los. So einen, den Männer ausstoßen, wenn sie eine scharfe Braut sehen.

Der Mann unten bekam ernsthaften Hunger. Auf der anderen Seite ging eine junge Frau mit Kinderwagen. Sie telefonierte. Hatte es eilig. Ob in dem Kinderwagen wirklich ein Kind drin war, konnte er nicht sehen. Der Wagen hatte so ein Schiebeding am Kopfteil. Man muss sich schon vorbeugen und genau reinschauen, um den Inhalt zu sehen. Irgendwie erinnerte ihn der Kinderwagen an einen Sarg. Obwohl die Sonne schien. Vielleicht gerade deshalb. Die junge Mutter schnatterte in einer Tour. Verstehen konnte er nichts. Es waren nur entfernte Sprachsalven. Ohne Inhalt. Aber mit Überzeugung vorgetragen. Dachte er. Und zog den Mantel aus. Hängte ihn locker um seine Schultern. Rieb sich den Bauch. Hatte das dringende Bedürfnis, verrückt zu werden. Doch das kann man sich nicht aussuchen. Er sah auf seine Schuhe. Schuhe sagen viel über einen Menschen. Behauptet man. Diese könnten wieder einmal geputzt werden. Er wackelte mit den großen Zehen. So wie man es beim Schuhkauf macht. Um zu sehen, ob sie passen. Unabhängig vom Preis.

Die Frau vom Fenster saß auf dem Klo. Stierte vor sich hin. Ohne zu denken. Die Buddhisten wissen, wie schwer das ist. Es war der dritte Tag in Folge ohne Ergebnis. In der Küche pfiff Sokrates wieder die Deutsche Nationalhymne. Sie stand auf. Zog die Hosen hoch. Wusch ihre Hände. Das Wasser war kalt. Zurück in der Küche knipste sie das Radio an. Den Klassiksender. Sokrates liebte das. Er kannte vermutlich mehr klassische Musik, als der grobe Durchschnittsdeutsche. Sie öffnete den Küchenschrank. Holte eine Erdnuss heraus und gab sie ihm, der sich auch gleich ans Knacken machte. Auf dem Tisch lag noch ein halbes Kreuzworträtsel. Aber ihr war nicht danach. Sie ging zum Fenster. Sah den Mann mit umgehängten Mantel. Wunderte sich. Der Mann hob den rechten Arm. Dabei fiel der Mantel auf den Boden. Er hob ihn auf. Klopfte kurz darauf rum. Ein Taxi hielt. Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Zog die Tür zu. Kurzes Palaver, dann fuhr das Taxi davon. Und aus einem ihr unerklärlichen Grund war sie seltsamerweise erleichtert.


© Ulrich P. Hinz

 

Foto von MART PRODUCTION

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