Ich höre sie rufen (Kurzprosa)

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Wenn ich auf dem Klo sitze, höre ich die Dohlen rufen. Aber nur, weil ich unter dem Dach wohne. Es könnte Sommer sein. Aber ich habe vergessen, wie sich das anfühlt. Der Morgen zerbröselt. Ich hatte einen Alptraum heut Nacht. Ich liebe Alpträume. Sie sind wie die Dohlen. Gute Freunde in schwarz. Vornübergebeugt sitzen wir hier und lesen Asterix. Ich brauche viel Zeit, um in den Tag zu kommen. Und noch mehr, um ihn wieder zu verlassen. Der Duft von Kaffee endet an der Wohnzimmertür. Zeitung lese ich nicht. Aber die Sonne scheint. Wie gleichgültig die Welt sich doch dreht. Vielmehr wissen wir nicht. Und halten doch daran fest.

Die Züge fahren hier nicht so oft. Man hat sich daran gewöhnt, im Laufe der Jahre. Dass die Züge durch die Fenster fahren. In regelmäßigen Abständen. Der Blick auf die Schienen entschädigt dafür. Und hat man das Gefühl, in New York zu sein. Auch wenn die Zeit eine andere ist. Der Jazz steckt im Detail. Du hast das nie verstanden und bist ausgezogen. Die Katze hast du mitgenommen.

Ich habe ein Fernglas. Natürlich macht man sich Sorgen, wenn die Kinder an den Gleisen spielen. Sie legen Münzen und solche Sachen auf die Schienen. Dann freuen sie sich immer, dass der Zug nicht entgleist ist und bestaunen ihre plattgewalzten Schätze. Ich war auch mal ein Kind. Aber ich habe vergessen, wie sich das anfühlt.

Im Nachbarhaus probt eine Band. Heavy Metal. Dem Geräusch der Züge sehr ähnlich. Ich mag es, wenn sie spielen. Aber ich mag auch Dean Martin. Meine Großmutter liebte Freddy Quinn. Sie hat mir immer seine Platten vorgespielt. Junge komm bald wieder. Und obwohl ich es wollte, ist aus mir doch kein Seemann geworden. Nimm mich mit Kapitän auf die Reise. Die Reste meiner Großmutter liegen im Meer. Der Zehnfünfzig läuft gleich ein. Mit Verspätung ist zu rechnen. Heute soll der heißeste Tag im Jahr werden. Aber daran glaube ich nicht. Vielmehr halte ich alles für ein Gerücht. Die Dohlen wissen davon.

Jeden Tag aufs Neue nehme ich mir vor, einmal an den Schienen zu lecken. In westlicher Richtung. Du sagtest, ich würde langsam verrückt und hast die Katze mitgenommen. Sie hat hier auf der Fensterbank gesessen. Der Zehnfünfzig ist durch. Ich habe Hunger. Aber ich liebe diesen Hunger einfach zu sehr. Weil ich genau weiß, wie sich das anfühlt. Die Feuerwehr von ganz in der Nähe rückt aus. Und vielleicht wird die Zeitung darüber berichten. In der Zwischenzeit macht die Band eine Pause.

Ich weiß, dass du an mich denkst. Ich spüre es jedes Mal in meinen Brustwarzen, wenn du es tust. Auch weiß ich, dass du mich anrufst und gleich wieder auflegst, sobald ich mich melde. Selbst wenn deine Nummer nicht übertragen wird, weiß ich doch, dass du es bist. Wie mag es der Katze gehen? Im Kühlschrank stehen noch zwei Dosen Futter. Die Lieblingssorte mit Huhn. Du hast gesagt, ich sei kein Mensch für Gesellschaft. Mein Telefon werde ich kündigen. Von draußen bellt ein Hund. Ein Lachen bleibt aus. Der heißeste Tag des Jahres ist ein Reinfall. Bloßes Propagandagewäsch.

Auf meinem Frühstückstisch steht eine Rose. Vollkommen – verwelkt. Aber genauso liebe ich sie. Du hättest sie schon lange entsorgt. Wie es heute heißt. Früher hätte man weggeschmissen gesagt. Aber früher gab es auch Kriege in Deutschland. Heute bleibt uns Hartz 4. Ich sei kein politischer Mensch, hast Du gesagt. Doch nur, weil ich es besser weiß. Zoon Politikon hat Aristoteles gesagt. Ist es möglich nicht nichts zu fühlen? Natürlich hast du recht. Wieder weiche ich aus. Wir wissen beide warum. Und auch wenn wir tatsächlich dieselbe Sprache sprechen, bleibt es nur Übersetzung. In letzter Konsequenz unmöglich. Bleibt Dohlensprache.

Das Klirren des Geschirrs kommt vom Dreizehndreißig. Ein schweres Monster mit Güterwaggons. Deutschland ein Gütermärchen. Daran glauben sie noch. Aber wir wissen es besser. Weißt du noch, wie wir wir sagten? Kannst du dich daran erinnern? Wie spät mag es werden – heut Nacht? Die Band hat wieder angefangen. Ich fürchte, sie schaffen es nicht. Aber darum mach ich mir keine Sorgen. Jedenfalls versuchen sie es. Und das allein schon ist gut. Zeit an die Kunst zu verschwenden, ist die beste Investition überhaupt. Ich hatte nur vergessen, wie sich das anfühlt.

Der Abend beginnt mit dem Achtzehnuhrzwölf. Vieles wird anders sein. Nicht meine Rose. Der Vollmond vielleicht. Im Rausch der Medien die Welt. Von Krisen und anderen Lächerlichkeiten. Sie sagen, es stünde nicht gut. Doch das geht mich nichts an. Auf den Schienen verglüht die Sonne vom heißesten Tag. Kinder werden gleich nach Hause kommen. Die Bandmitglieder trinken ein Bier. Die Lieblingssorte mit Huhn steht im Kühlschrank.

Ich hänge am Fenster. Und über mir liegt das Dach. Und darauf tanzen die Dohlen. Und gleich, ganz kurz bevor der Tag verhungert, erwarten sie mich. Die guten Freunde. Hörst du sie nicht?


© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Nguyen Tran

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