Gegen die Schwerkraft (Kurzprosa)

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In der Suche wird das Finden zur Nebensache. Er stand vor dem Brunnen und kratze sich den Kopf. Ein Schrei über ihm zog seinen Blick nach oben. Da waren Männer auf dem Dach. Keine Selbstmörder. Handwerker vermutlich. Die spazierten da rum, als gäbe es keine Schwerkraft. Riefen sich Sachen zu. Einer biss in ein Butterbrot. Picknick über der Stadt. Dachte er. Sein Blick wanderte zurück in das Brunnenwasser. Nicht sehr sauber. Mit Sonnenglitzer überzogen. Wellen im Randbereich. Kaum sichtbar. Die grüne Patina trug der Brunnen wie eine Haut. Von oben brüllte es wieder. Er beugte sich über den Rand. Studierte sein wackelndes Spiegelbild. Musste an Narziss denken. Und lächeln. Kaum sichtbar. Neben dem Brunnen stand ein Baum. Darum gezogen eine blaue Bank. Eigentlich einzelne Stühle. Aus Metalldrahtgeflecht. Zusammengeschweißt zu einem Rondell. Da saßen schon einige. Er hockte sich dazu. Das wackelnde Spiegelbild noch im Restblick. Ein altes Ehepaar, wie es schien, saß zwei Stühle neben ihm. Sie holte aus einer Tüte ein Stück geschälten Apfel. Reichte es an den Mann. Der es widerstandslos nahm.

Um diese Bank lag das Herzstück der Stadt. Er liebte sie. Diese Stadt. Steckte eine Zigarette an. Ließ die Menschen an sich vorbei laufen. Ging ihnen in Gedanken hinterher. Und hatte für einen Moment das Gefühl, zufrieden zu sein. Auch wenn im Kern seiner Wahrnehmung ein schwaches Flimmern lag. So, als würde sich die Welt mit jedem Lidschlag aufs Neue zusammensetzen. Ein kleines Mädchen tauchte ihren Zeigefinger in das Brunnenwasser. Malte ein paar Figuren damit. Lachte. Auf dem Boden tummelten sich Tauben. Die warteten auf Essensreste des Italienischen Imbissladens. Der ein paar Tische draußen hatte. Von oben kam ein Stück Bildzeitung herunter geflattert. Im leichten Sinkflug. Zwei Punks die vorbei schlurften, amüsierten sich köstlich darüber. Kickten das Papier wie einen Fußball durch die Passage. Grölten dabei. Ließen die Fetzen schließlich liegen. Zogen weiter. Er mochte Punks.

12 Uhr Mittags. Das war einer seiner Lieblingsfilme. Jetzt in der Wirklichkeit. Die Uhrzeit. Nicht die Geschichte. Wobei der Unterschied lediglich aus ein paar Farbpartikeln bestand. Glaubte er manchmal. Die Musik ging ihm durch den Kopf. Ferne Trommeln. Bumpappabumpappabumpa … „Do not forsake me oh my darling …“Der einsame Held zieht durch die Straßen. Allein gegen den Rest der Welt. Klassiker der Filmgeschichte. Ein Stoff wie aus der Bibel. Und das alles durch einen einzigen Blick auf die Uhr. Er legte den Arm zurück auf seinen Schoß. Bemerkte leichtes Schwitzen an der Stirn. Überlegte, einen Espresso bei dem Italiener zu trinken. Ganz in der Nähe begannen ein paar Straßenmusiker. Die waren gut. Klassische Ausbildung. Ein Quartett aus dem Ostblock. Auch wenn er sie jetzt nicht sah. Er hatte ihnen schon oft zugehört. Gelegentlich war auch ein Tenor dabei. Für die Straßen eigentlich viel zu schade. Glasklare Stimme. Erinnerte ihn sogar an Mario Lanza. Mit einer russischen Seele. So weit von der Heimat. Im tiefen Klang der Melancholie. Und das alles für ein paar Münzen zu haben. Je nachdem. Oder wenn überhaupt. Kultur im Ausverkauf. Moderne Evolution.

Die Sonne wurde stärker. Er knipste sich eine neue Zigarette an. Ohne Filter. Sterben wie Humphrey Bogart. Die Bilder seiner Erinnerungen waren heute überwiegend schwarzweiß. Aber das störte ihn nicht. Casablanca in Farbe hätte nie funktioniert. Er stand auf. Ging rüber zum Italiener. Setzte sich an einen Tisch. Setzte sich so, dass er die Männer auf dem Dach im Blick hatte.

Eine Kellnerin kam angetrabt. „Guten Tag. Was darf’s denn sein?“ „Einen Espresso bitte.“ „Ein Espresso. Kommt sofort.“ Sie tippte irgendetwas in so ein elektronisches Dings. Es piepte lustig. Noch im Tippen drehte sie sich um und zog davon. Er sah ihr nach. Süß die Kleine. Dachte er. „Uns bleibt Paris.“ Brummelte es. In schwarzweiß. Ein Polizist lief hier Streife. Ganz gemütlich. Nicht mehr der jüngste. Mit einem Lächeln im Gesicht. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher. Er drückte die Zigarette aus. Hustete leicht. Rauchen kann tödlich sein. Stand auf der Packung. In fetten, schwarzen Lettern. Wie der Vorabdruck einer Todesanzeige. Von Steuereinnahmen steht da nichts. Die Kellnerin kam zurück. „Ein Espresso. Bitte schön.“ „Vielen Dank.“ Gute Creama. Er kippte etwas Zucker rein. Rührte um. Führte die Tasse an die Nase, schloss die Augen und nahm den Duft in sich auf.

Die Mittagshitze hatte sich ausgebreitet. Lag über der Stadt wie die Picknickdecke auf einer Wiese. Die leere Espressotasse stand vor ihm. Er schaute hinein. In den angetrockneten Bodensatz. Schwarzbraune Zufälligkeitsverteilung. Expressionistischer Impressionismus. Oder umgekehrt. Kunst liegt in der Fantasie des Betrachters. Und seine Fantasie war heute leicht morbide gestimmt. Dachte er. Wobei das Bild so deutlich war, dass es auch ohne Fantasie auskam. Ein Totenkopf. Guter alter Jolly Roger. Der Fantasie blieb überlassen, ob er grinste oder einfach nur die Zähne fletschte. Aber wer glaubt schon an Kaffeesatz. Die Kellnerin kam wieder an seinen Tisch. „Darf’s noch etwas sein?“ „Ja, ich hätte diesmal gerne einen Cappuccino.“ Sie nickte. „Ein Cappuccino. “ Sie tippte. Nahm die leere Tasse und ging. Netter Hintern. Pars pro toto. Der Teil für das Ganze. Und was für ein Teil. Dachte er. Und lächelte.

Eine leichte Brise zog durch die Straßen. Zu warm, um Abkühlung zu schaffen. Aber doch angenehm. Der Cappuccino war in Ordnung. Nicht wirklich Italienisch. Was den Geschmack betraf. Dafür schon halb leer. Mit Schaumresten am oberen Rand. Die zwei Amarettinis hatte er noch nicht gegessen. Alles in allem dem Italienischen recht gut nachempfunden. Bis auf den Geschmack. Der benötigt vermutlich Italien.

„Pass auf, Mensch!“ Der Schrei riss seinen Blick auf das Dach. Sah den rutschenden Körper. Sah den Blaumann im freien Fall. Das Flattern der Hose. Die Arme wild rudernd. Und für den Moment eines Lidschlages stand die Erde still. Hing ein Mensch in der Luft. Schoss das Bild für den Rest eines Lebens. So wie früher schon bei Sir Isaac Newton. Im selben Prinzip. Fällt anstelle des Apfels der Mensch. Und fällt. Fällt durch die warme Brise. Mitten in das Herz der Stadt. Näherte sich dem Asphalt mit einer berechenbaren Geschwindigkeit. Der Aufprall ein dumpfes Geräusch. Mischte sich mit dem Flügelschlagen der Tauben. Dem Entsetzen der Passanten. Und regungslos blieb der Körper liegen. Während die Musiker ganz in der Nähe Beethoven anstimmten.

 

© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Maria Orlova

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