Das Kratzen an der Haut (Kurzprosa)

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Es war 10 Jahre her. Sein Spiegelbild wusste das. Die diplomatischen Beziehungen waren angespannt. Bei jeder Rasur. Nass, mit Billigklingen. Das Kratzen an der Haut. Gegen den Strich. Jeden Morgen. Zwanghaft. Er kam zum Schluss. Wischte mit einem Handtuch den restlichen Schaum aus dem Gesicht. Nahm das Old Spice, von dem sie immer gesagt hatte, es würde ihn nach Lebkuchen riechen lassen. Klatschte es auf die gereizte Haut und zog die Nase hoch.
Auf dem Küchentisch stand die Tasse Kaffee. Halbvoll und lauwarm. Er leerte sie mit einem Schluck. Der Spice-Duft war stärker als der Geschmack. Die Hölle liegt näher als der Himmel. Dachte er, stieg in den Mantel und verließ die Wohnung.

Ein diesiger Tag. Gestern gab’s hier noch Sonne. Die Bürgersteige waren leer. Nach dem Ausschwärmen der Früharbeiter, Schulkinder und so. Er hatte Zeit. Lief in Richtung Innenstadt. Ein alter Mann fegte Laub. War ganz in die Arbeit vertieft. Hatte was Buddhistisches. Typisch Deutsch. Er kam zum Spielplatz. Ein paar Mütter saßen auf den Bänken. Die Kinder im Sandkasten. Ein Geschrei an der Rutsche. Vielleicht die schönste Zeit des Lebens. Vielleicht auch nicht. 10 Jahre sind eine lange Zeit. Egal in welchem Alter. Solange sie vor einem liegen. Hinterher ist man schlauer. Auf der anderen Straßenseite lag die Stadtbäckerei. Er steuerte sie an. Die junge Bedienung war sehr freundlich. Kein schönes Mädchen. Ohne jegliches Potential auf Linderung. Dabei herzensgut. Er bestellte ein Frühstück. (Donnerstag, 24. September 2009) Setzte sich. Runder Stehtisch mit Stuhl. Die Auslage sah wie eine riesige Schatztruhe aus. Durchsichtig. Bis zum Bersten gefüllt. Das Mädchen stellte einen Teller auf die Theke. „Der Kaffee kommt sofort.“ Er stand auf und nahm den Teller. „Danke.“ Zwei halbe Brötchen mit Mett. Ohne Zwiebeln, mit Salz und Pfeffer. „Den Kaffee bringe ich ihnen gleich.“ Er versuchte, zu lächeln. „Vielen Dank.“ Die Eingangsfront bestand komplett aus Glas. Fensterplatz mit Blick auf die Straße. Besser als Kino. Das Mädchen servierte. „So, einmal der Kaffee. Bitte schön.“ „Danke sehr.“ Der Laden war nicht sehr groß. Eine alte Frau kam herein. „Morgen.“ „Ein Normales und ein Croissant bitte.“ „Gerne.“ Das knisternde Geräusch der Tüte beim Einpacken. „1,30 € Bitte.“ Die Frau kramte in ihrem Portemonnaie. „Ich glaub, ich hab es passend.“ Sie gab es dem Mädchen in die Hand. „Vielen Dank und einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.“ „Danke. Ihnen auch. Auf Wiedersehen.“ „Wiedersehen.“ Der Ofen fing an zu piepsen. Sie öffnete ihn und nahm ein Blech mit Brötchen raus. Kippte sie in die Schatztruhe. Er nippte an seinem Kaffee. Immer mehr Laufkundschaft kam jetzt rein. Das Mädchen war allein. Hatte aber die Ruhe weg.

Das Gedankenkarussell fing wieder an, sich zu drehen. Sie war in der Stadt. Wollte ihn sehen. Die zittrigen Knie als ihr Anruf kam. Er wollte nicht. Ließ sich dann doch überreden. Ein Treffen im Steakhaus. Ganz unverbindlich. Bei einem guten Essen. Er biss in das Brötchen und ärgerte sich. Ein Hitzeschub. Er nahm noch einen Bissen und warf das Brötchen zurück auf den Teller. Der Schluck Kaffee zum runter spülen. Eine junge Mutter mit Kinderwagen kam herein. Sie schien das Thekenmädchen zu kennen. „Ach ist der süß. Wie alt ist er jetzt?“ „Nächsten Monat wird er Zwei.“ Johannes hieß der Kleine und bekam ein Rosinenbrötchen. Kurzer Plausch, dann waren sie wieder verschwunden. Sein Teller war leer. Er bestellte noch einen Kaffee. Sah auf die Uhr. Kurz nach 12. Der Termin war um Eins. Für die Tasse wird’s noch reichen. Ein Jammer, dass man hier nicht rauchen darf. Der Laden füllte sich. Wurde lauter. Eine weitere Bedienung war eingetroffen. Bereitete die Mittagsgerichte vor. Er schaute auf die Speisekarte. Heute: Cordon bleu mit Erbsen, Möhren und Bratkartoffeln. 6,80 €. Er stand auf. Bezahlte und verließ den Laden. Steckte sich eine Zigarette an. Ging in Richtung Steakhaus. Kurz vor Eins. Der Versuch, langsam zu gehen, fiel schwer. Von jedem Schaufenster ließ er sich anziehen. Haushaltsgeräte. Der neueste Küchenzauber. Ein Bioreformhaus. Mit Apothekerpreisen. Die Sonne zeigte sich. Wenn auch nur schwach. Er setzte sich auf die Bank einer Bushaltestelle. Zündete noch eine Zigarette an. Die nächste Ecke das Steakhaus. Die Uhr zeigte fünf nach Eins. Er schnippte die Zigarette auf die Straße und zog sich hoch.

Auf der anderen Seite lag das Restaurant. Mit großen Fenstern. Er schlich von der Seite heran. Lugte vorsichtig durch ein Fenster. Sah sie sitzen. War überwältigt von ihrer Schönheit. Immer noch. Nach all dieser Zeit. Er drehte den Rücken an die Wand. Die Hand auf dem Fensterrahmen. Sein Herz schlug doppelt. Die Knie weich. Die Luft dünner. Was für ein Irrtum. Vielleicht der größte seines Lebens. Er lief zurück an die Haltestelle. Setzte sich. Zündete eine Zigarette an. Nahm drei tiefe Züge auf einmal. Zitterte am ganzen Körper. Sah dem Rauch hinterher. 10 Jahre sind eine lange Zeit. Aber es gibt Dinge, die brauchen länger. Er stand auf und ging nach Hause. Langsam. Hochkonzentriert. Am Spielplatz vorbei. Kam an die Stelle, wo der alte Mann das Laub gefegt hatte. Der war nicht mehr da. Dafür neues Laub. Schließlich stand er vor seiner Haustür. Schloss auf. Schaute in den Briefkasten. Leer. Nicht einmal Werbung. Stieg hoch in den dritten Stock. Aus der Nachbarwohnung kam Musik. Beethovens Neunte. Ihm war mehr nach der Fünften. Der Anrufbeantworter blinkte. Er ließ ihn blinken und ging ins Bad. Lange sah er in den Spiegel. Sah die 10 Jahre. Die Augenringe und mehr. Dann nickte er und fing an, sich zu rasieren.

© Ulrich P. Hinz


Foto von Evelyn Chong

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