Die Evolution der Milch (Kurzprosa)

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Der Restduft des Frühlings ging direkt ins Gehirn. Wie der Leichengeruch in einem Hausflur. Und genauso fühlte er sich. Im sterbenden Frühling lag für ihn die größte Traurigkeit des Jahres. Und doch war es nur eine von vielen Traurigkeiten. Er war ein Sammler. Der Mensch ist ja seit geraumer Zeit für seine Sammelleidenschaft bekannt. Vielleicht war es zu Beginn lediglich eine banale Überlebenseigenschaft. Aber im Laufe einer stetig anschwellenden Evolution, die ihren Teilnehmern durchaus eine gewisse Form von Verweichlichung zugestand, ist diese Eigenschaft dann möglicherweise irgendwie in eine Leidenschaft umgeschlagen. So wie eine Milch irgendwann umschlägt und dann sauer wird. Doch die Evolution der Milch interessierte diesen Menschen nur am Rande. Er sammelte Traurigkeiten.

Natürlich lässt sich eine Traurigkeit nicht einfach so in ein Album stecken oder kleben. Ein Briefmarkensammler hat es da wesentlich leichter. Wobei die Objekte der Leidenschaft in den letzen 100 Jahren so undurchdringlich zahlreich geworden sind, dass es schon fast ein Jammer ist, in diesem Zusammenhang einen ganz gewöhnlichen Briefmarkensammler zu erwähnen. Aber dieser Mensch war ursprünglich selbst Briefmarkensammler gewesen. Als Kind um genau zu sein. Er bekam von seinem Großvater ehemals ein altes Album geschenkt. Und das mit Sechs Jahren. Fast Sieben. Der Großvater hatte bereits ein wenig vorgesammelt. Daher hielt das Album schon ein paar Schätze bereit, als es in seinen Besitz überging. Tiermarken. Rehe, Löwen, Vögel, das ganze Programm. Er liebte Tiere.

Doch im Alter von sieben Jahren wechselte er dann die Seiten. Man saß beim gemeinsamen Mittagessen. Die ganze Familie. Seinem Großvater gehörte der Platz am Kopf der Tafel. Er selbst durfte zur Linken des Großvaters sitzen. Weil es ein Sonntag war. Es gab Schweinebraten mit Kartoffeln und Soße. Salat am Rande. Als Kind freut man sich natürlich besonders auf den Nachtisch. Da stand Karamellpudding auf der Karte. Genauer gesagt stand der noch in der Küche. Er hatte dabei zugeschaut, wie die Großmutter ihn machte. Durfte die eine oder andere Fingerspitze kosten. Und während man so beim Mittagessen saß, ließ der Großvater plötzlich Messer und Gabel fallen und begann seltsam zu zittern und nach Luft zu schnappen. Wie ein Karpfen. Kippte schließlich vom Stuhl. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Familie reagierte. Dann stürzten sie sich auf den Großvater. Trugen ihn nach kurzen Bemühungen und wilden Rufen aus dem Esszimmer. Ließen den kleinen Briefmarkensammler allein am Tisch zurück.

Da saß er nun. Und starrte unaufhörlich auf den Teller des Großvaters. Sah die Kartoffeln, die in der Soße lagen. Den angeschnittenen Braten. Dachte daran, wie der Großvater noch eben da gesessen hatte. Und beim Blick auf diesen verlassenen Teller kam ein Gefühl in ihm hoch, das er so noch nicht kannte. Seine erste große Traurigkeit.

Aber das alles war so lange her. Und doch wurde damals der Grundstein für eine wahrlich beeindruckende Sammlung gelegt. Man sagt ja, dass das erste Stück in einer Sammlung das Wichtigste und Kostbarste sei. Auch wenn die Anfängerqualität eines solchen Stückes nicht zu leugnen ist, die dem erfahrenen Sammler vielleicht nur ein leichtes Lächeln entlockt. Dennoch blickt man auf dieses erste Stück immer mit einer ganz besonderen Liebe zurück. Und bei ihm war es ähnlich. Ein verlassener Sitzplatz ließ ihn auch heute noch in eine sanfte Melancholie versinken. Selbst wenn sein Gegenüber den Tisch nur kurz verlassen hatte, um beispielsweise auf die Toilette zu verschwinden.

Aber Traurigkeiten kommen und gehen. So wie die Jahreszeiten. Und im nächsten Augenblick stand der Herbst vor der Tür. Die Stadt war nicht sehr voll. Auf dem Weg sah er einen alten Freund. Im Vorübergehen blieb er unerkannt. Hatte kurz die Luft angehalten. Wäre in Gedanken fast gestolpert. Lief weiter, ohne sich umzudrehen. Verdrängte ein schlechtes Gewissen. Die Einsamkeit ist eine gefährliche Sucht. Doch unter Menschen wurde ihm schwindelig. Und seine Schritte fühlen sich an wie auf Erdbeben. Und er brauchte höchste Konzentration, um nicht umzufallen. Alles nur Einbildung. Dachte er dann. Eine Zeitverschiebung in der Wahrnehmung vielleicht. Tatsächlich wurde es mit jedem Schritt besser. Je nach Zielvorgabe. Eine Taube schoss hoch. Wäre ihm fast ins Gesicht geflogen. Ein Ausweichen beiderseits unter glücklichen Umständen. Die Bilder in seinem Gehirn kochten. Über die möglichen Folgen eines ungeplanten Zusammenstoßes weiß man ja Bescheid. Die physikalischen Kräfte lassen sich relativ exakt berechnen. Die psychologischen Auswirkungen kann man therapieren. Wenn auch die Zeit hierfür wie eine Unbekannte aussieht. Je nach Zielvorgabe. Doch die Geburt einer Erinnerung lässt sich kaum aufhalten. Einmal in der Welt, kann man sie bestenfalls unterdrücken. Wobei das in der Regel der Fälle ein Flickwerk bleibt. Er war stehen geblieben. Sammelte sich kurz. Im Stillstand der Gegenwart. Eine Taube hat kein Problem damit, eine Taube zu sein. Dachte er.

In seinem Gedächtnis ging es um. Amoklauf der Bilder. Realitätshäcksler. Im Austausch von Saugen und Erbrechen. Dieser Freund kam hoch. Und auch an ihm klebte eine seiner Traurigkeiten. Es schien deutlich wie selten. Sie hatten sich in der Stadt getroffen. Waren geschlendert. Vergaßen in einem Café die Zeit. Philosophierten über Alles und Nichts. Um schließlich an der Bushaltestelle zu stehen. Sein Bus kam. Der des Freundes ließ auf sich warten. Man verabschiedete sich. Er stieg ein. Setzte sich ans Fenster. Schaute auf den Freund, der sich eine Zigarette anzündete. Schon wieder ganz bei sich. Als der Bus losfuhr, brannte die Zigarette. Ihre Blicke trafen sich noch einmal. Der Freund winkte zum Abschied. Und in diesem Bild steckte die Traurigkeit. Sie überwältigte ihn wie ein Vulkanausbruch. Lavastrom aus Gedanken. Diesen Freund nie wieder zu sehen. Tod durch irgendwas. Verschollen im Bermudadreieck. Bei einem Autounfall ums Leben gekommen. In Ausübung seiner Pflicht … usw. Wie selbstverständlich wir doch bis morgen sagen. Oder bis zum nächsten mal. Wie dem auch sei, es scheint immer zu oberflächlich. Selten wirklich angemessen. Heute noch in ein strahlendes Lächeln geschaut. Morgen auf dem Friedhof die letzen Momente Revue passieren lassen. Der Freund verschwand aus dem Blickwinkel. Die Geräusche des Busses wie im Traum. Eine alte Dame setzte sich neben ihn. Er begann zu weinen.

Und noch bevor man es glaubt, ist es Winter geworden. Weihnachten steht vor oder hinter der Tür. Die Spuren im Schnee könnten auch noch vom letzten Jahr stammen. Der Duft von Glühwein, Lebkuchen und Tannenzweigen hing über der Stadt. Menschen in Massen. Heiliger Krieg modern. Europäisch. Christlich. Volkswirtschaftlich. Er konnte Weihnachten nicht ausstehen. Bei den Jahreswechsel war es ähnlich. Sein Weg führte durch eine Nebenstraße. Der Himmel war klar. Ein alter Mann mit Hund und Zigarre kam ihm entgegen. Die Zigarre hing wie ein Eiszapfen an diesen durchsichtigen Lippen. Bei näherer Betrachtung fiel ihm auf, dass der Alte Hausschuhe trug. Mitten im Winter. Pantoffeln im Schnee. Das schwere Atmen durch die Nase. Pfeifen und Rasseln einer Dampflokomotive. Der Hund schaute ängstlich. Er ließ sie hinter sich. Und plötzlich tauchte dieses Geschäft auf. Bonsai-Kunst. Er blieb stehen. Ein Schaufenster wie aus einer anderen Welt. Alte Bäume. Vielleicht auch nur auf alt getrimmt. Jedenfalls im Kinderformat. Betörend schön. Die Faszination ließ ihn kaum atmen. Seine Blicke wanderten von einem Exemplar zum nächsten. Und wieder zurück. Ein Wald im Schaufenster. Mitten in der Stadt. Schon bei den alten Griechen galt der Baum als eines der Ursymbole. Die Idee des Baumes. Hier im Taschenformat. Zum Mitnehmen. Sein Herz schlug unregelmäßig. Gelegentlich. Aber stand nicht irgendwo geschrieben, man solle einen Baum pflanzen? Vielleicht war die Zeit dafür gekommen. Er holte tief Luft und betrat den Laden.

© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Alex Green

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