Totalschaden (Kurzprosa)

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Sie konnte Krankenhäuser nicht ausstehen. „Inmitten auf der Fahrt durch unser Leben Fand ich mich jäh in einem finstern Walde, Dieweil der recht Weg mir ging verloren.“ Sterile Maschinerie schon im Eingang greifbar. Die Korridore kalt. Hierher also kommen sie, um zu sterben. Vor dem Aufzug ein altes Mütterchen. Die Türen öffneten sich. Einmal die Fünf. Sie drückte die Sieben. Zwischenstopp auf der Drei. Ein älterer Mann mit einem seltsamen Schraubkasten und Tropf an seinem Arm stieg zu. Er hustete. Drückte die 12. Das Mütterchen verschwand in der Fünf. Auf der Sieben betrat sie den Flur. Dann durch die Tür, die sich automatisch öffnete. Rechts lag das Schwesternzimmer. Ein großer Glaskasten. Daran vorbei und dann auf der linken Seite. Zimmernummer 729. Die Klinke geht schwer. Die Luft im Raum war seltsam dünn. Zwei Betten. Unzählige Schläuche. Piepsende Geräte. Der Blick aus dem Fenster weit. Sie zog den Stuhl an das Bett vor dem Fenster. Ließ sich nieder. Schaute in dieses fahle Gesicht. Sie hatte das Gefühl, dass es schmaler geworden war. Seit dem letzten mal. Farbloser. Fast durchsichtig. Sie nahm Daniels Hand. Totalschaden. Schädel-Hirn-Trauma. Unberechenbarer Verlauf. Nach Aussagen der Ärzte nicht mehr viel zu machen. Wie der Name schon sagt. Totalschaden.

Nach sechs Monaten fing es an. Die moralisch-ethischen Diskussionen mit den Ärzten. Wäre es nicht besser für ihren Bruder wenn … Ein Krankenhaus ist in erster Linie ein Wirtschaftsunternehmen.

Rentabilität: „Gewinnmöglichkeit ; Verzinsungsmaß des periodisch eingesetzten Kapitals . Verhältnis von Gewinn zu Einsatzkapital. %-tuale Rentabilität zeigt die Verzinsung des eingesetzten Kapitals in einer Abrechnungsperiode auf. Man unterscheidet: 1. Eigenkapitalrentabilität; 2. Gesamtkapitalrentabilität. Eigenkapitalrentabilität (Gewinn × 100 / Eigenkapital = Eigenkapitalrentabilität). Gesamtkapitalrentabilität = (Gewinn + Fremdkapitalzinsen) ×100 / (Eigenkapital + Fremdkapital) = Gesamtkapitalrentabilität.“ Wir könnten die Maschinen abstellen. Das hängt allein von Ihnen ab. Oder aber wir ziehen die Magensonde. Ihr einziger Bruder sollte also verhungern. In einem Land wie diesem. Bislang konnte sie die Diskussionen für sich entscheiden. Aber der Druck der Götter nahm zu. Stetig. Doch noch brauchte sie ihren Bruder. Die Tür ging auf, und eine Schwester kam herein. Grüßte höflich, kontrollierte ein paar Geräte und verschwand wieder. Sie zog das Buch aus der Tasche. Tom Sawyer. Als Kinder hatten sie dieses Buch geliebt. Sie begann vorzulesen. An der Stelle, wo sie das letzte Mal aufgehört hatte. Der Patient im Nachbarbett war ebenfalls still. Er war alt. Lag seit gut zwei Monaten hier. Bekam kein Besuch.

engl.: coma Stadium tiefer Bewußtlosigkeit mit Fehlen jeglicher Reaktion auf Anruf, allgemein auch auf stärkere Schmerzreize (vgl. Sopor; s.a. Koma). Als Zustand bei traumatischer Schädigung, organischer Erkrankung des Gehirns (= C. cerebrale), z.B. bei Stoffwechselentgleisung (z.B. C. acidoticum, C. diabeticum; oder als C. basedowicum), bei Vergiftung, bei – durch Hirnischämie, -embolie, -blutung bedingtem – zerebralem Insult (Apoplexia cerebri = C. apo|plecticum) sowie nach Hirnkontusion, bei Hirntumor, -abszeß oder -druck, bei Meningoenzephalitis, Epilepsie, Hypophyseninsuffizienz (»hypophysäres K.«). Zur Abschätzung der Tiefe des Komas u. zur Verlaufsbeobachtung wird der Glasgow Coma Scale bei Erwachsenen (u. entsprechend modifiziert bei Kindern) eingesetzt; geprüft werden die besten motorischen u. verbalen Antworten, die der Patient abgeben kann.“

Draußen begann es, dunkel zu werden. Tom und Huck lagen im Gras und rauchten Pfeife. Sie hörten das Tuten der weißen Raddampfer. Der gute alte Mississippi. Gelegentlich blickte sie. auf dieses Gesicht. Die geschlossenen Augen.

15 Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung ist und ohne das tägliche Brot

16 und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen – was nützt das?

Die Welt wurde zusehends schwärzer. Zimmer 729 begann, sich in dem Fenster zu spiegeln. Ihre Stimme wurde schwächer. Es kostete Kraft, gegen das Piepsen der Maschinen anzulesen. Schließlich klappte sie das Buch zu. Betrachtete sich im Fenster. Die Welt um sie herum. Dann nahm sie noch einmal Daniels Hand. Küsste sie. Küsste seine Stirn. Tätschelte auch die Hand des Alten einmal kurz und ging. Die Schwester von vorhin saß im Glaskasten und schrieb etwas. Als sie sie sah, lächelte sie. Nickte mit dem Kopf.

29 Ich weiß: Nach meinem Weggang werden reißende Wölfe bei euch eindringen und die Herde nicht schonen.

30 Und selbst aus eurer Mitte werden Männer auftreten, die mit ihren falschen Reden die Jünger auf ihre Seite ziehen“

Sie nickte schwach zurück. Langsam schlurfte sie den Gang entlang. Die Hände in den Manteltaschen. Im Fahrstuhl blieb sie allein. Der Herr vom Empfang telefonierte. Die Eingangstür öffnete sich automatisch. Auf dem überdachten Vorplatz standen ein paar Patienten. Rauchten. Einige tranken Bier. Sie zündete sich eine Zigarette an. Lief die Straße hinunter. Sie parkte ihren Wagen selten im krankenhauseigenen Parkhaus. Es begann zu nieseln. Sie konnte Krankenhäuser nicht ausstehen.

 

© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Gratisography

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