Marzipan und Schaufensterpuppen (Kurzprosa)

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Es hatte seit Tagen geregnet. Die Stadt war aufgedunsen wie eine Wasserleiche. Durch die Fensterritzen zog der Wind. Das schmutzige Gesicht eines Restsommers im Verfall. Stark geschminkt. Bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Agonie einer Zeit. Die Sterne standen schief. Und genauso liefen die Menschen. Schief. Grau und schief. Er liebte dieses Wort. Schief. Aber er liebte viele Worte. Manchmal, mitten auf dem Nachhauseweg zum Beispiel, kam ihm eines in den Kopf. Das musste er dann sofort aussprechen. „Enthusiastisch. Enthusiastische Vergleichsstudie. Ha!“ Ein Vorteil der modernen Zeit ist, dass einer wie er gar nicht mehr großartig auffällt. „Mit Erdbeerei belegtes Marmeladenbrötchen.“ Man steckte sich einfach so etwas wie ein Headset ans Ohr. Und schon denkt jeder, ah, der telefoniert. Selbstgespräche in der Öffentlichkeit sind somit kaum noch ein Problem. Für Dichter war es eine herrliche Zeit. Er stand vor einem Schaufenster. Nett geschmückte Puppen räkelten sich da. Präsentierten den letzten Schrei. „Oszillograph.“ Eine Frau die neben ihm stand, schaute kurz. Die hätte auch hinter der Scheibe stehen können. „Modepüppchen.“ Er lachte. „Modepüppchen mit Regenschirm.“ Er nahm sein Notizbuch aus der Tasche. Schrieb es auf. Das Püppchen schüttelte den Kopf und ging. „Schlangenschmalz für Fortgeschrittene.“ In dem Notizbuch wimmelte es von Wörtern, Wortfetzen, Sprachabsonderlichkeiten, Buchstabengewitter. Und die meisten davon hatte er ausgesprochen. Eine Art dichterisches Torrettsyndrom. Er war diesbezüglich auch schon beim Arzt gewesen. Heute rennt man ja wegen jeder Kleinigkeit zu Arzt. Aber der hatte bloß gesagt: „Sie sind Dichter. Finden sie sich damit ab.“ Guter Arzt.

Schaufensterpuppen sind schon ein seltsames Volk. Diese hier hatten schöne Münder. Sinnlich und lasziv. Er stellte sich vor, es gäbe nur Schaufensterpuppen. Der Bürgermeister eine Schaufensterpuppe. Die Kids, die gerade vorbeikamen, Schaufensterpuppen. Er selbst. Schaufensterpuppe. Seine Eltern. Und so weiter. Sie wimmeln durch die Städte. Durch die Welt. Universell. Schön. Gut angezogen. Das war doch mal ein Slogan. Er schrieb ihn auf. Das Schaufenster erinnerte ihn irgendwie an ein Aquarium. Ein riesiges Aquarium. Nur ohne Wasser. Damit fehlte natürlich das wesentliche Element. Schließlich leitete sich Aquarium von lat. aqua ab. Und trotzdem. Die Ironie ist zuweilen ein tückisches Instrument. Er steckte das Notizbuch in die Tasche zurück. Dachte an diese Saugfische aus dem Zoo. Die, die an der Aquariumsscheibe kleben. So fühlte er sich gerade. Auch wenn er auf der falschen Seite stand. Und selbst wenn es die richtige sein sollte. Er klammerte sich an sein Notizbuch. In der linken Manteltasche. Rechts die Tabakdose. Sein Feuerzeug. Haptisches Sicherheitsgeplänkel eines Mannes. Im Banne Jahrzehnte alter Verkaufsstrategie. Philosophisch erschüttert. Das Gehirn drehte den Körper um 90 Grad. Leitete die erforderlichen Schritte ein. Er betrat das Geschäft. Klamotten so weit das Auge reichte. Eine Frau mittleren Alters kam auf ihn zu.
„Guten Tag. Kann ich ihnen helfen?“
„Ja, ich würde mich gerne als Schaufensterpuppe bei ihnen bewerben.“ Das fragende Gesicht der Verkäuferin machte ihn glücklich.
„Als Schaufensterpuppe?“
„Ja.“
„Aber sie sind keine Schaufensterpuppe.“ Sagte sie mit einem Lächeln.
„Nein, ich bin Dichter.“ Kurze Pause.
„Ist das versteckte Kamera?“
„Nein.“
„Gut. Aber es gibt keine lebenden Schaufensterpuppen.“
„Vielleicht sind sie ja nicht befugt, eine solche Entscheidung zu treffen?“
„Da muss man nichts entscheiden. Es gibt keine lebenden Schaufensterpuppen und wird es vermutlich auch nie geben.“
„Wie können sie das wissen?“
„Na ja, ich arbeite seit über 20 Jahren in dieser Branche. Da hat man Erfahrung.“
„Gute Frau, wenn jedes Wissen lediglich auf Erfahrung basieren würde, wäre die Welt vermutlich eine andere.“
„Wie dem auch sei. In dieser Welt gibt es auf jeden Fall keine lebenden Schaufensterpuppen.“
„Würde es ihnen denn etwas ausmachen, bei ihrem Vorgesetzten trotzdem einmal nachzufragen?“
„Hören sie, mein Vorgesetzter ist eine vielbeschäftigte Frau.“
„Ich bitte sie inständig.“ Ihre Gesichtsfarbe wechselte leicht.
„Also schön.“
Sie holte einmal tief Luft und zog ab. Er sah sich um. Hemden, Hosen, Jacken, Mäntel usw. Stolze Preise. Dachte er. Stolz ist eine Sünde. Dachte die Bibel. Viel los war hier nicht. Eine weitere Verkäuferin im Beratungsgespräch. Die paar Leute hier erinnerten ihn irgendwie an Statisten. Die Welt ist eine Bühne. Hatte Shakespeare gesagt. Ein kluger Mann. Er schaute auf die Uhr. Seine Verkäuferin kam zurück.
„Und, haben sie mit ihr gesprochen?“
„Ja. Sie sagte, dass wir momentan keine Schaufensterpuppen einstellen.“
„Ah, nun gut. Ich lasse ihnen meine Karte da. Für alle Fälle. Sollte eine Stelle frei werden, bitte denken sie an mich.“ Er griff in die Innentasche des Mantels. Nahm sein Portemonnaie. Zog eine Karte heraus und reichte sie der Verkäuferin.
„Sie werden an mich denken?“
„Darauf können sie sich verlassen.“ Sie lächelte wieder. Vielleicht war es auch ein Grinsen. Ihm war es egal.
„Schön. Dann auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen.“ Sie nickte den Kopf.

Der Regen hatte sich in sprühenden Niesel verwandelt. Es gibt ja etliche Arten von Regen. So wie die Eskimos – wie man sagt – 100 Worte für weiß haben, was die Farbe des Schnees betrifft, so hatte der Regen hier mindestens 100 Arten von verschiedenen Fallmöglichkeiten. Die Anzahl der Namen dafür liegt allerdings weit unter 100. Es war ein Jammer. Wie er fand. „Spaghettiregen. Spaghettiregen mit Tomatensoße.“ Ein abschließender Blick auf das Schaufenster. Die potentiell neuen Kollegen schauten ihn an. „Mandelsplitterregen.“ Er verbeugte sich tief. Mit einer Handbewegung die Kavaliere machen, wenn sie eine Dame zum Tanz auffordern.

Dann schlenderte er weiter. „Lustwandelregen.“ Die Einkaufspassage war trotz des Wetters recht gut besucht. Ein Bettler ohne Beine dafür mit Rollstuhl fingerte in einem Pappbecher herum. Überflog seine Einnahmen. Er ging auf ihn zu.
„Joho, und ne Buddel Rum.“ Der Beinlose schüttelte einmal kurz den Becher.
„Du sagst es Kumpel. Haste mal ne Dublone?“ „Natürlich.“ Er warf einen Euro in den Becher, der ungefähr viertelvoll war. Allerdings überwiegend mit Kupferschrott. Gold und Silber sah man kaum. „Danke man. Ich wünsch dir ein schönen Tag.“ „Guter Platz hier?“ „Na ja, der Vorbau hält den Regen ab.“ „OK. Dann viel Erfolg noch.“ „Danke man.“

Er zog weiter. Kam zu seinem Stammcafé. Die hatten auch ein sehr schönes Schaufenster. Meisterliche Marzipanskulpturen auf verschiedene Körbchen verteilt. Möhren, Kartoffeln, Blumenkohl, Porreestangen, Maiskolben. Alles aus Marzipan und bis auf die Größe täuschend echt. Darüber thronte eine dreistöckige Torte. Einfach perfekt. Er trat ein. Rechts die Glasvitrine mit dem Kuchenangebot. Links die mit den Pralinen. Hunderte von Pralinen. Zwei Frauen hinter der Kuchenvitrine. „Guten Tag.“ Sagte die ältere. „Guten Tag.“ Er sah kurz auf die Kuchen. Die jüngere lächelte ihn an. „Darf’s ein Stückchen sein, der Herr?“ Er überlegte. „Vielleicht später noch. Vielen Dank.“ „Gerne.“ Durch zwei riesige Schwingtüren ging es zu den Tischen. Alles hier erinnerte ein wenig an Wiener Caféhäuser. Nur kleiner. Die Marzipanausgabe vielleicht. Dachte er und lachte. Ziemlich was los heute. Durchschnittsalter sechzig plus. Geräuschkulisse entsprechend. Er entdeckte einen freien Tisch. Eroberte ihn kampflos. Ließ sich nieder. Legte den Mantel auf den Nebenstuhl. Zog das Notizbuch heraus. Eine Kellnerin kam an seinen Tisch. „Guten Tag. Was darf ich ihnen bringen?“ „Ich hätt’ gern einen Cappuccino.“ „Mit Milch oder mit Sahne.“ „Mit Sahne bitte.“ „Gerne.“ Sie notierte und trat ab. Eigentlich gehört zum Kaffee eine Zigarette. Aber rauchen durfte man hier nicht. „Rauchfreie Rentner.“ Er schlug das Notizbuch auf und begann zu schreiben.


Ulrich P. Hinz

 

Foto von Clem Onojeghuo

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