Wie die Papageien (Kurzprosa)

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrags-Kategorie:Kurzprosa
  • Lesedauer:6 min Lesezeit

Er hatte sich die Schamhaare rausgerissen. So wie es die Papageien gelegentlich mit ihren Federn machen. Es blutete und er schrie. Aber er lachte auch. Zischend zog er Luft durch die Zähne. Das Bad war nicht sehr groß. Er saß auf dem Klo und stöhnte. Der Schmerz war beeindruckend. Seine Augen tränten. Er presste sie zu. Und sah doch Farben. Zuckende Blitze. Er begann zu singen. Laut und schief. Die Fliesen sorgten für Hall. Van Gogh hatte sich ein Ohr abgeschnitten. Aber der war verrückt.

Er sah auf seine Hand. Die Haare mit Blut an den Wurzeln. Hautfetzen weiß bis beige. Der menschliche Körper ein Meisterwerk. Aber wahre Schönheit muss zerstören. Sonst bleibt es trivial. Er führte die Hand an die Nase. Roch kräftig daran. Der Duft war nicht wie erwartet. Metallisch im Abgang. Er schüttelte die Haare zu Boden. Sah auf die blutende Scham. Der Schmerz war gleichbleibend stehen geblieben. Ließ sogar nach. Er riss Toilettenpapier von der Rolle. Betupfte die Wunde. Blut saugte sich ein. Es brannte. Und weiteres Zischen zog an den Zähnen vorbei. Ein Husten krachte nach. Schüttelte ihn. Ging in ein Lachen über.

Ein Fläschchen Myrrhetinktur stand auf dem Spülkasten. Gegen Entzündungen im Mundbereich. Alkoholgehalt 85%. Er nahm es und öffnete den Verschluss. Kein angenehmer Geruch. Er drehte es auf den Kopf. Dicke Tropfen schossen wie eine Maschinengewehrsalve auf die Wunde. Ihm wurde schwarz vor den Augen. Ein Schrei. Das Fläschchen fiel aus der Hand. Krachte auf die Fliesen. Er fing sich – jubilierte. Ein Höllengefühl. Brüllte es aus. „Ihr, die hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren …!“ Ein Dante zur rechten Zeit. Mutterseelenallein. In Keramik gehüllt.

Sein Rücken lehnte am Klodeckel. Die Arme ließ er hängen. Den Kopf an der Wand. Sein Blick verlor sich im Weiß. Mit einem Lächeln. Wie viel Wahrheit tatsächlich im Schmerz lag, wusste er jetzt – wieder. Der Atem ging schwer. Und dennoch war die Erleichterung groß. Das Feuer auf der Scham gleichmäßig verteilt.
Neben dem Klo stand ein Schränkchen. Darauf lag eine Fernbedienung. Er griff danach und drückte einen Knopf. Es piepste. Seine Hand zitterte. Er warf die Fernbedienung zurück auf den Schrank und zog sich hoch. Weich in den Knien. Mit Babyschritten zum Waschbecken. Kurz abgestützt. Der Blick in den Spiegel. Schweißperlen im Stirnbereich. Er nahm einen Waschlappen und ließ warmes Wasser darüber laufen. Wusch vorsichtig die Wunde. Merkte, wie der Schmerz über den Nacken durch den Körper lief. Bis auf den Grund. Der Versuch, zu lächeln. Mit einem Handtuch tupfte er trocken. Pustete Luft hinterher. Es kühlte. Aus dem Spiegelschrank nahm er Pflaster, schnitt zwei Streifen zurecht. Legte ein Mullstück auf die offene Stelle. Fixierte es rechts und links mit den Pflastern.

Auf dem Badewannenrand lag eine Unterhose. Er setzte sich daneben. Ruhte kurz aus. Fasste die Hose, beugte sich runter, hob den rechten Fuß, schob die Hose darüber. Das gleiche Spiel mit Links. Im Aufstehen zog er sie hoch. Baustelle versiegelt. Eltern haften für ihre Kinder. Er schlurfte zum Waschbecken. Wusch Gesicht und Hände. Trocknete ab. Schloss den Schrank. Sah den Spiegel. Blass im Blick. Kurz vor dem Ende der Sommerzeit. Kehrtwende Marsch.

In kleinen Schritten los. Er nahm die Kamera vom Stativ, ging zum Wohnzimmer und setzte sich an den PC. Das Leder vom Stuhl war kalt. Tat ihm gut. Er schloss die Kamera an den Rechner. Die Festplatte knusperte und ein Signalton erklang. Einige Klicks und er sah sein Werk. Sah, dass es gut war.
Stück für Stück zerschnitt er den Film. Zehn Minuten sind nicht viel. Mehr Zeit blieb ihm nicht. Ohne dafür zu bezahlen. YouTube ist streng. Aber er war ein Meister des Schnitts. War konditioniert auf zehn Minuten. Pawlow sei Dank. Zu Not hätte er eine Serie gemacht. Aber das wollte er nicht. Wahre Kunst ist immer Zerstörung von Welt. Alles andere bleibt romantisches Geschwätz. Ein YouTube-Künstler wie er wusste davon. Saß und klickte sich in die Nacht. Es lief gut. Der Kaffee war frisch. Das Werk kurz vor Vollendung. Arbeit im Extrembereich. Er nahm einen Schluck und drückte auf Speichern. Ein großes Gefühl.

Mit der Kaffeetasse in der Hand hatte er sich zurückgelehnt. Schaute auf das Ergebnis. War zufrieden. Lächelte schwach. Schaute noch mal. Es blieb dabei. Er loggte sich auf YouTube ein. Lud die Datei hoch. Der Server war nicht der Schnellste. Es zog sich. Aber das war ihm egal. Er drehte eine Zigarette. Der Ladebalken stand knapp vor der Hälfte. Die Augen brannten. Der Qualm der Zigarette verteilte den Raum. Ein tiefer Zug bis an den Rand. Gleich war es soweit. Fünf Minuten vielleicht. Er tippte die Videoinformationen in die entsprechenden Felder der Seite. Der Titel des Werkes spielte eine wesentliche Rolle. Bei deinem Namen habe ich dich gerufen. Die Beschreibung war elementar. Suchmaschinen gierten danach. Abonnenten hatte er wenig. Aber die Wenigen liebten ihn. Alles braucht seine Zeit.

Der Balken stand jetzt über 90%. Die Informationen bereit. Er zog an der Zigarette. Trank den letzten Schluck Kaffee. Im schimmernden Licht des Monitors. Dann war es vollbracht. Weiteres Warten. „Video in Bearbeitung …“ Auch das konnte dauern. Er drückte die Zigarette aus. Steckte eine Neue an. Aktualisierte das Fenster. „Video in Bearbeitung …“ Er hustete. Stark und kräftig. Aschte dabei auf den Teppich. Gesaugt wird morgen. Draußen hörte es sich nach Regen an. Er aktualisierte das Fenster. „Video Live!“


© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Magda Ehlers

Schreibe einen Kommentar