Wenn die Vergangenheit dich einholt, ist es meistens zu spät. Er saß am offenen Fenster und betrachtete die Straße. Gegenüber war die Bushaltestelle, in der die Penner immer saßen. Gleich daneben ein Supermarkt. Die Straße hatte Löcher. Der Morgen zerfiel. Er hatte noch nicht gefrühstückt. Bloß drei Tassen Kaffee. Vier Zigaretten. Sein Magen brannte. Es war ein Samstag. Sonne war keine da. Für einen Frühling war es zu kalt. Der Straßenlärm störte ihn gewohnheitsmäßig wenig. Eine dicke Frau kam mit zwei vollgepackten Tüten aus dem Supermarkt. Die Schwerfälligkeit in jeder Bewegung. Ihr folgte der erste Penner des Morgens. Ein junger Kerl in schwarzen Klamotten. Dünn wie Stroh. Mit zwei Bierflaschen in den Händen. Er schlurfte zur Haltestelle. Hockte sich auf die Bank und stellte eine Flasche neben sich. An die andere setzte er ein Feuerzeug. Plopp. Den Deckel schnippte er auf die Straße. Leerte die halbe Flasche auf Ex. Lehnte sich zurück an die Glaswand. Goss nach. Er kannte diesen Kerl. Der kam aus der Klapse, die nur einen Block entfernt lag. Die meisten kamen daher. Und eigentlich kannte er sie alle. Vom Sehen. Diesen nannte er Black Crow. Weil er ihn an den Film erinnerte. Lag wohl auch an den schwarzen Klamotten. Den schwarzen, halblangen fettigen Haaren. Ziemlich kaputter Typ. Schwerer Junkie. Jetzt wohl auf Polamedon. Und an der Flasche. Für einen Samstag war er früh dran.
Von rechts kam ein Martinshorn näher. In der Kaffeemaschine war noch mindestens eine Tasse. Er ging in die Küche. Sein Blick stolperte auf den Brotkasten. Aber er wollte nicht essen. Wobei sein Magen Hunger für zwei hatte. Er machte den Kaffeepott voll und stellte die Maschine ab. Als er zurück ans Fenster kam, war die Kleine von Black Crow angekommen. Die war süß. Sie stritten wie die Teufel. So laut, dass er durch den Verkehr sogar einige Worte verstehen konnte. „… ist doch Scheiße …“ „…Ey Alter, ey …“ Und plötzlich stand die Kleine auf und knallte ihm voll eine ins Gesicht. Der Krähe fiel die Bierflasche aus der Hand. Er versuchte, die Kleine zur Seite zu schieben. Wollte nach der Flasche greifen. Verlor das Gleichgewicht und klatschte auf dem Boden. Blickte ein paar Sekunden benommen vor sich hin. Entdeckte die Falsche. Nahm sie. Die Kleine hob ihn auf. Setzte ihn auf die Bank zurück. Fing an, ihn abzuküssen. Setze sich auf seinen Schoß und drückte ihn fest an sich. Ein Polizeiwagen schoss vorbei.
Es war unwiderruflich Mittag geworden. Er setzte einen neuen Kaffee auf. Schaltete das Radio an. Schmierte ein Brot. Nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Öffnete sie. Während der Kaffee durchlief. Brot und Bier. Kaffee hinterher.
In der Haltestelle saß der Dicke mit den Krücken. Der war hier im letzen Jahr besoffen auf die Straße gefallen. Ein Taxi hatte ihn voll erwischt. Seitdem fehlt ihm ein Bein. Der nackte Bauch grinste untern dem viel zu kurzen T-Shirt hervor. Bei der Kälte. Er trank nur Korn. Die Billigmarke aus dem Supermarkt. Wie der mit seinem einen Bein immer wieder nach Hause kommt, bleibt ein Rätsel. Aber heute schien er nicht in Form zu sein. Die Flasche war erst halb leer. Er steckte sie in die Hosentasche, nahm die Krücken und hievte sich hoch. Wackelte langsam davon. Die Sonne kroch halbherzig durch die Wolken. Im Supermarkt war einiges los. Es schien ihm, als ob die Menschen Angst haben, den Sonntag nicht zu überleben, wenn sie am Samstag nicht ihr sauer verdientes Geld in den Supermarkt tragen. Sich Notreserven zulegen. Scheint noch vom letzen Krieg zu kommen.
Er holte sich ein neues Bier. In der Wohnung über ihm ging die Stereoanlage los. Volles Rohr Jimi Hendrix. Er mochte Jimi. Nahm das Saxophon aus der Ecke und blies ein paar Tonleitern. Rauf und runter. Kleine Sieben. Große Sieben. Triller hier. Quietschen da. An Jimi kam er nicht ran. Gab schließlich auf. Stellte es zurück auf den Ständer. Drehte eine Zigarette. Knipste sie an und setzte sich wieder ans Fenster.
Die Hexe war da. Die trug immer bunte Kleider. Eine Armeejacke drüber. Hatte feuerrote Haare. Und pöbelte jeden an, der vorbei ging. Sie schmiss Tabletten. Und reichlich Wodka. Ab einem gewissen Pegel fing sie an, zu tanzen. War sie voll, ließ sie sich von jedem begrapschen. Steckte wem auch immer ihre Zunge in den Hals. Ob die aus der Klapse kam, wusste er nicht genau. Heute trug sie ein hellgrünes Kleid. Braune Wildlederstiefel. Ein lila Halstuch. Das Outfit passte zu Hendrix. I’m a Voodoo Chile … Sie war bereits jenseits der Tanzschwelle und zog mit dem Russen davon. Die Sonne war doch noch gekommen. Der Bundesligaspieltag fing gleich an. Fußball interessierte ihn nicht mehr. Aber die Radios brüllten es raus. Er stand auf und goss den Drachenbaum und die Palme. Räumte den kleinen Tisch auf. Fing an, zu staubsaugen. Das alte Riesensofa klopfte er aus. Im Bad war es spiegelsauber. Er setzte sich auf das Klo. Glotze die Wand an und ließ es laufen. Kaffe treibt. Sagt der Volksmund. Von oben dröhnte nun irgendein Technoscheiß. Beim Händewaschen merkte er, dass es ihm egal war. Im Kühlschrank stand noch genug Bier. Gut gekühlt spielt die Marke keine Rolle. Er setzte sich an den kleinen Küchentisch und trank. Aß die Reste vom Kartoffelsalat.
Die Haltestelle war leer. Im Supermarkt ging es rund. Der Bus hielt, und ein Pärchen mit Kinderwagen stieg aus. Von rechts kam sein Lieblingspenner angedackelt. Mit der obligatorischen Plastiktüte. Ein alter Mann. Mit blauem Jackett. Mindestens 10 Jahre alt. Darunter ein Hawaiihemd. Beige Hose. Mindestens eine Nummer zu groß. Der Gürtel hielt sie oben. Die Haare waren noch recht braun für das Alter. Und in den 50ern bestimmt mal eine pomadige Elvistolle. Er setzte sich auf die Bank und kramte eine Dose Bier aus der Tüte. Alle, die hier sonst so einliefen, tranken ihr Bier oder was auch immer direkt aus der Flasche. Bei ihm war es anders. Er hatte immer ein Glas dabei. Immer in ein Stofftaschentuch gewickelt. Er packte es aus und steckte das Taschentuch in sein Jackett. Klopfte dreimal mit dem Zeigefinger auf die Dose. Öffnete sie und schenkte ein. Trank zwei, drei Schlucke, stellte das Glas neben sich. Legte ein Bein über das andere und schaute. Jeden Tag. Mindestens fünf Dosen. Alle aus dem Glas. Gelegentlich hatte er auch Kuchen dabei. Den schnitt er sich mit einem Taschenmesser zurecht. Viele Zähne waren ihm nicht geblieben. Aber Marmorkuchen ist weich. Von irgendwo grölte es. War wohl ein Tor gefallen. Dass das Wetter noch so gut wird, hätte er gar nicht gedacht. Der alte Elvis kippte das Bier in sich rein. Wollte gerade nachschenken und fing plötzlich fürchterlich an, zu zucken. Er schlug mit dem Rücken gegen die Haltestellenwand. Sein Glas fiel auf den Boden und zersprang. Er zappelte wie eine Marionette auf Ecstasy. Schlug wild mit den Armen. Rutschte von der Bank. Landete auf dem Rücken. In der Bierlache. Ruderte mit allen Gliedern wie ein Ertrinkender. Zwei junge Kerle wollten ihm helfen. Konnten aber nichts machen. Der eine holte sein Handy aus der Tasche und wählte. Elvis zappelte immer noch. Leute blieben stehen. Immer mehr. Unten im Haus grölte es wieder. Noch ein Tor? Von rechts kam ein Martinshorn näher. Wurde lauter. Der Krankenwagen. Die Leute winkten ihn heran. Er blieb vor der Haltestelle stehen. Die Sanitäter stiegen aus. Der rote Wagen leuchtete in der Sonne.
Er hatte sich ein neues Bier geholt. Der Krankenwagen stand noch da. Ein Notarzt war dazu gekommen. Stand wohl nicht gut um Elvis. Der Bundesligaspieltag ging langsam zu Ende. Er drehte sich eine Zigarette. Oben dröhnte Deep Purple. Smoke on the water … Live. Das Telefon klingelte. Gerade schoben sie Elvis in den Krankenwagen. Er zuckte nicht mehr. Ein Sani blieb hinten bei ihm im Wagen. Der andere setzte sich ans Steuer. Schaltete das Martinshorn an und fuhr los. Der Notarzt hinterher. Das Telefon hatte aufgehört zu klingeln. Er drückte die Zigarette aus. Im Supermarkt war noch einiges los. Den Elvis sah er nie wieder.
© Ulrich P. Hinz
Foto von Stephen Niemeier