Gedankenschleuder (17.04.2022 Ostersonntag)

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17.04.2022

Die große Uhr steht. Die Welt hat aufgehört, sich zu drehen. Die Sterne kann man ganz leicht vom Himmel pflücken. Oder sie fallen einfach runter, wie reife Äpfel. Und dann geht der große Vorhang auf. Wie in einem Theater. Und wir sitzen auf unseren Plätzen und warten. Das ist tatsächlich fast eine Vorstellung. Und du wirst an Godot erinnert. Wir warten. Wir können hier nicht weg. Weil wir warten. Aber Godot kommt nicht. Oder war schon längst da. Wir warten auch nicht auf ihn. Sondern auf ganz andere Dinge. Auf die große Gerechtigkeit vielleicht. Auf den ursprünglichen Richter. Der uns alle schuldig spricht. Oder sich den langen Bart krault und dann anfängt zu lachen. Von dem, was wir uns erwarten, davon weiß er nichts. Wie könnte es auch anders sein. Aber wir sitzen hier. In diesem, nach Theater riechenden Stühlen. Und der geöffnete Vorhang sieht sich das Ganze aus einer völlig anderen Perspektive an. Aber darüber muss man schweigen. Sagte schon Wittgenstein. Worüber man nicht sprechen kann. Und so weiter. Wir aber können über fast alles sprechen. Und über alles, worüber wir sprechen können, das ist nichts wert. Denn die eigentlichen Dinge, darüber kann man nicht sprechen. Vielmehr, darüber braucht man nicht zu sprechen. Sie sind so offensichtlich, dass jedes Wort darüber schmerzen würde. Wie ein Einschuss oder ein Bombeneinschlag. Also lassen wir das. Und reden stattdessen über Godot. Das ist in jedem Falle sinnvoller. Und wenn die Welt tatsächlichen alles ist, was der Fall ist, wie Wittgenstein sagte, dann ist es eventuell ein Fall aus großer Höhe. Oder aus ungeborener Tiefe. Wir wissen es nicht. Aber als Kasus geht das nicht durch. Das wussten sogar die kleinen Leute schon damals. Und die haben sich auch köstlich darüber amüsiert. So wie wir, wenn wir auf Godot warten. Der große Anführer. Der große Erlöser. Er wird kommen. Vor allem, weil heute Ostern ist. Ostersonntag sogar. Aber darum sollte man sich keine großen Sorgen machen. Denn nichts wird passieren. Wir werden Jesus jedes Jahr wieder kreuzigen, und uns dann die Bäuche vollschlagen. Dabei vergessen wir unsere Seelen. Aber das macht nichts. Godot wird Neue mitbringen. Und dann ist alles wieder im Lot. Natürlich sind solche Ersatzseelen nur bedingt zu gebrauchen. Das sollte jedem klar sein. Aber im Allgemeinen werden sie gut vertragen. Und darauf kommt es an. Und Godot wird wieder mal ein gutes Geschäft machen. Der alte Hund. Der stille Geselle. Die Ausgeburt eines Becketts. Wer konnte das schon ahnen. Aber die ganze Angelegenheit wird wie immer unter den Tisch gekehrt. Man weiß das auch. Wobei es sich dabei um eine ganz normale Konvention handelt. Es ist so üblich. Man hat das immer schon so gemacht. Es hat sich bewährt. Und wir werden den Teufel tun, um daran etwas zu ändern. Und wenn uns der Strom ausgeht, oder wir unsere Armen nicht mehr versorgen können, wen stört das großartig. Denn großartig sind sie alle. Vor allem artig. Viel artig. Groß artig. Brave Gesellen. Wir aber vergnügen uns auf andere Weise. Deswegen mussten wir Jesus ja auch ans Kreuz schlagen. Deswegen machen wir das auch immer wieder. Bloß die ganze Sache lohnt sich im Grunde eigentlich nicht. Und sobald dies erkannt wird, fängt es an zu bröckeln. Der kleine Mann hat da natürlich nicht viel von. Und das Sklaventum hat sich nie wirklich verabschiedet. Es hat nur die Kleiderordnung verändert. Wie im alten Rom schon die freien Bürger es immer wieder sagten. Markiert sie besser nicht, sonst werden sie merken, wie viele sie im Grunde sind. Heute ist das anders. Heute gibt es TV und die Presse. Der moderne Ausrufer von damals. Und die Helden schlafen. Die ganz Großen, sie schlafen. Oder es ist ihnen egal. Oder sie sind einfach dabei. Wir werden es irgendwann erfahren. Auch, wenn es dann zu spät sein wird. Es kommen herrliche Zeiten. Aber vor den Erfolg haben die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt. Auch, wenn das ein übles Klischee ist. Wir glauben daran. Und der geöffnete Himmel gibt uns recht. Zudem hat Godot sich bereits vor langer Zeit auf den Weg gemacht. Er muss also bald kommen. Und nur weil heute Ostern ist, heißt es noch lange nicht, dass die Welt nun in Ordnung kommt. Zumindest nicht der kleine Mann. Und den Großen ist es egal. Die werden ihr Ding durchziehen. Und erst wenn sie merken, dass es ohne den Pöbel eigentlich keinen Spaß mehr macht, werden sie möglicherweise so etwas Ähnliches wie Reue empfinden. Wobei diese Möglichkeit eine rein spekulative ist und es wahrscheinlicher ist, dass Godot kommen wird. Aber das ist ebenfalls nur eine Vermutung. 20 Minuten vorbei. Godot sei Dank.

© Ulrich P. Hinz

Foto von Ekaterina Belinskaya

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