Gedankenschleuder (24.04.2022)

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24.04.2022

Der Tod hat mal wieder angeklopft. In der Familie. Und mitgenommen. Geholt. Vielleicht auch befreit. Wir wissen es nicht. Selbst, wenn wir es irgendwann erfahren werden. Plötzlich und unerwartet. Davon hört man jetzt öfter. Plötzlich und unerwartet. Das ist dann manchmal umso schlimmer. Auch wenn es für den Sterbenden im Grunde schnell geht. Und wer wünscht sich das nicht. Und dann ist da dieses kleine, blonde Mädchen. Mit dem man im Sandkasten gespielt hat. Im Kinderplantschbecken. Und selbst, wenn dann im Laufe des Lebens unterschiedliche Städte eine Rolle spielen. Man wird immer dieses kleine, blonde Mädchen sehen. Und nur, weil sie als erwachsene Frau einfach zusammengebrochen ist, bleibt sie, was sie ist. Oder ansonsten auch nicht. Wir können es nur aus unserer eigenen Perspektive beobachten. Wenn man die Toten in seiner eigenen Welt sehen kann, die sich natürlich im Gehirn und in den geistigen Welten abspielen, es ist immer ein Bild aus der Vergangenheit. So ist es konzipiert. So wird es durchgezogen. Und ob ein plötzlich und unerwartet dazwischen kommt, macht es nicht besser. Vielleicht auch nicht schlechter. Wer kann das jetzt, im Vollbesitz des Lebens wissen. Niemand. Und die Wahrscheinlichkeit, dass nichts bleibt, ist groß. Ein kurzer Schmerz und Stille. Das muss unglaublich schön sein. Natürlich nicht für die Übriggebliebenen. Für die ist es die Hölle. Zeitweise. Aber wir befinden uns ja eh aus dem vertriebenen Paradies. Da macht das im Grunde nur einen marginalen Unterschied. Und das kleine, blonde Mädchen hat dann im Gegensatz zu uns, ihren Frieden gefunden. Und darüber könnte man sich freuen. Aber das ist im Normalfall selten. Und wann wir selber dran sind, das könnte jederzeit sein. Jede Sekunde. Kleiner Schmerz und bum. Tot. Wir liegen dann auf irgend einem Boden und so. Vielleicht auf einem Feld oder einer Wiese. Wobei das in den heutigen Städten kaum der Fall sein dürfte. Aber auch ein Asphaltboden hat angenehme Momente. Und als Toter merkt man es dann ja sowieso nicht mehr. Das ist von großem Vorteil. Und nur, weil die anderen um dich weinen, musst du dir nichts dabei denken. Nur, weil wir dich vermissen werden, ist es dennoch gut. Alles ist gut. Ruhe in Frieden. Und grüße mir den Rest. Kleines blondes Mädchen. Das jetzt als erwachsene, tote Frau im Leichenhaus liegt. Es tut mir unendlich leid. Aber so ist der Lauf der Welt. Der Tod geht seine eigenen Wege. Er fragt nach nichts und niemanden. Wie heißt es bei Rilke, der Tod ist groß. Und ja, er ist eine ganze Welt. Vielleicht sogar ein ganzes Universum. Ein schwarzes Loch vielleicht. Aber vermutlich ist es nichts. Ein Nichts. Das Nichts. Und wo nichts fehlt, ist Paradies. So sagt man doch. Oder etwa nicht. Wir wissen es nicht. Können es eventuell erahnen. Aber nur, wenn wir uns darüber tatsächlich Gedanken machen. So wie ich seit Jahrzehnten. Täglich. Es gehört dazu. Und der Tag bekommt ein ganz anderes Gesicht. Memento. Bedenke. Und ja, wenn es dich dann so von den Socken haut, kann es seltsam sein. So viele nicht gelebte Tage. Gearbeitet. In einem verhassten Job vielleicht noch. Sekunde um Sekunde. Stunde um Stunde. Wem die Stunde schlägt. Es tummelt sich hier einiges herum. Kleines, blondes Mädchen, du wirst uns fehlen. Und das Plötzliche müssen wir erst einmal verdauen. Plötzlich und unerwartet. Ja, das ist eine seltsame Weise, auf die Dingen zu schauen, die uns nicht direkt betreffen. Die anderen widerfahren. Nur nicht uns. Bloß nicht uns. Auch, wenn es diesmal wieder anders war. Der Tod hat angeklopft und das kleine, blonde Mädchen, das du einmal warst, mitgenommen. Ruhe in Frieden. Kleines blondes Mädchen. Es wird weiter gehen. Aber anders. Es wird eine Lücke geben in der Welt. Aber das ist ganz normal. Wird immer normal sein. Und so, wie ich glaube, bist du jetzt im Paradies. Und das nicht in religiöser Hinsicht. Denn alles, was ist, ist nicht mehr als verdrängtes Nichts. Und du bist zurückgekehrt. Ein Mensch, bei dem ich mir nie vorstellen kann, dass selbst er gestorben ist, war Hermann Hesse. Wenn sogar der sterben kann, können wir es alle. Und die Welt wird sich trotzdem weiterdrehen. Die Bäume werden blühen, wenn es Zeit ist. Und der Schnitter holt das Laub ein. Trägt es zurück in die Unendlichkeit. Und das ist gut. Das macht es letztendlich gleich. Es macht alles gleich. Und darum liebe ich es auch so sehr. Und wenn dann alles seinen Gang gegangen ist, bleiben viele leere Stellen. Viele Lücken. Aber irgendwann wird dann letztendlich gar nichts mehr bleiben. Schlafe gut, keines, blondes Mädchen. 20 Minuten vorbei. Schlafe gut.

© Ulrich P. Hinz

Foto von Ekaterina Belinskaya

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