Die Ruhe vor dem Sturm ist ein tolles Gefühl. Er liebte das. Jedes Mal aufs Neue. Der Frühling war fast zu Ende. Und es regnete. In der linken Hand hielt er den Schirm. Einen kleinen zusammen schiebbaren. Schon ziemlich mitgenommen. Der Regen war nicht sehr stark. Wenn auch standhaft. Die nassen Straßen erinnerten ihn irgendwie an seine Kindheit. Als Kind hatte er Regen geliebt. Aber als Kind dauerte es ja auch eine Ewigkeit bis Weihnachten. Heute brauchte man sich bloß einmal um die eigene Achse zu drehen, und das Jahr ist rum. Er spazierte die Hauptstraße entlang. Und rechnete. Das menschliche Herz schlägt durchschnittlich 90 Mal pro Minute. Das sind 5.400 Schläge pro Stunde. 129.600 Schläge am Tag. 47.304.000 Schläge pro Jahr. 3.311.280.000 Schläge in 70 Jahren. Was für ein Wahnsinn. Mit Zahlen konnte er umgehen. Bis zum 70. Lebensjahr sind wir also mehrfache Milliardäre. In Herzschlägen gerechnet. Er bekam ein mulmiges Gefühl in der Brustgegend. Jedes Mal aufs Neue.
Ein Hund kam von vorn. Kein sehr großer. Mit schmutzigem Fell. Der schnüffelte an den Hauswänden entlang. Wie ein Staubsauger. Hunde, die er nicht kannte, machten ihm Angst. Den hier hätte er allerdings wegtreten können wie einen Fußball. Sie liefen an einander vorbei. Ohne Komplikationen. Einfach so. Jeder auf seine Weise. Schnellstmöglich. Der Regen wurde dünner. Er kam zum Musikladen. Hier hatte er gestern noch ein Blatt für seine Klarinette gekauft. Heute brauchte er nichts. Das Schaufenster hielt keine Überraschungen bereit. Ein Kunde war im Laden. Sprach mit dem Besitzer. Er kannte solche Gespräche. Hatte sie selbst schon geführt. Die Regentropfen an der Scheibe rutschten zögernd nach unten. Er ging weiter. In Richtung Innenstadt. Die Autos klingen seltsam im Regen. Das Zischen der Reifen ist unverkennbar. Sein Atem brutzelte. Er hustete ab. Spuckte aus. Sah das Blut. 129.600 Schläge am Tag.
Zwei kleine Mädchen kamen ihm entgegen. In Regelmänteln. Sie hielten sich an den Händen. Schienen es eilig zu haben. Waren ganz im Gespräch vertieft. Gingen an ihm vorüber. Ohne ihn anzusehen. Das Schlurfen ihrer Gummistiefel fand er lustig. Genau wie die riesige Zahnlücke der Linken. Im Oberkiefer. Er fuhr mit der Zunge über seine Zähne. Rutschte wieder in die Kindheit. Das Verlieren der Milchzähne. Was für ein Schritt. Wenn das erste Wackeln beginnt. Das dann immer stärker wird. Bis man mit der Zunge den Zahn hin und her schieben kann. Aber das war Milliarden von Herzschlägen her. Seine Augen begannen, zu brennen. Weinen wollte er nicht. Und so konzentrierte er sich wieder auf den Bürgersteig. Immer einen Schritt auf den anderen. Bis zum Café war es nicht mehr sehr weit. In einem Fenster saß eine Katze neben dem Ficus. Sie schaute ihn an. Eine schöne Katze. Gut genährt. Mit glänzendem Fell. Er ließ sie sitzen.
Im Café war noch nicht viel los. Die Kellnerin begrüßte ihn. Den Schirm stellte er in den Ständer. Hängte seinen Mantel an die Garderobe. Für Garderobe wird nicht gehaftet. Er sah sich um. 12 Leute zählte er. Das Klavier stand an der Wand. Ein wunderbares Instrument. Er liebte es. Ging darauf zu. Rückte den Klavierhocker zurecht und nahm Platz. Der Blick auf die Tasten. Wie der Blick in die Augen einer Geliebten. Mit allen Konsequenzen. Seine Finger streichelten einmal zärtlich darüber. Die Schönheit überwältigte ihn immer wieder. Dieser Duft. Er schloss kurz die Augen. Atmete tief ein. Konnte einen Hustenreiz unterdrücken. Spürte seine Fingerkuppen auf den Tasten. Merkte, wie sich der Mundwinkel fast zu einem Lächeln verzog. Der Hustenreiz wurde stärker. Er griff in die Hosentasche nach der Sprühflasche und gab sich zwei Stöße. Steckte die Flasche zurück. Die Kellnerin kam und stellte eine Tasse Kaffee auf das Klavier. Und einen Teller. Für das Trinkgeld.
Er streckte einmal gründlich die Arme. Ließ die Finger in der Luft tanzen. Kleines Aufwärm-ABC. Für die alten Glieder. Er nahm einen Schluck Kaffee. Schaute sich noch einmal um. Legte die Hände zurück auf die Tasten. Beginnen wir mit Mozart. Dachte er. Fantasie d-Moll KV 397. Die ersten Töne. In den jungfräulichen Raum. Er genoss sie. Diese erste Welle in Moll. Der Ritt durch die Arpeggien. Und dann diese kindliche, unbekümmerte Arroganz, die bei Mozart immer wieder auftaucht. Selbst in Moll. Dafür musste man ihn einfach lieben. Er spielte ihn sanft. Nicht zu langsam. Ganz im Fluss. Seine Finger funktionierten. Der Husten war betäubt. Die Welt war Musik.
Das Café füllte sich. Langsam. Er war zu Schubert übergegangen. Auf dem Teller lagen schon ein paar Münzen. Schubert war nur 31 Jahre alt geworden. Den hatte er weit überlebt. Die Kellnerin hatte eine Papierservierte auf den Teller gelegt. Damit die Münzen nicht so klimpern. Das machte sie immer so. Seit zwei Jahren spielte er hier. Jeden Mittwoch. Es gab Leute, die kamen nur her, um ihn zu hören. Hatte man ihm gesagt. Der Hustenreiz wurde wieder stärker. Nach dem Schubert musste er wieder sprühen. Dann kam er zu Bach. Das Präludium. In C-dur. C war die Mutter aller Tonleitern. Der Vater in D. Sich selbst sah er in H. Teilweise auch in G. Den Tod in f-moll. Was für komische Gedanken beim Üben so kamen. Trotzdem fürchtete er sich vor f-moll. Dem Aberglauben zum Trotz. Aber das Präludium war in C. Darin schwamm er gerade. Ein Meer von Bach. Ruhiger Wellengang. Er ließ sich treiben. War glücklich. Für den Moment. Und spürte plötzlich, wie sich ein Schwert durch sein Herz bohrte. Im Blick auf die Tasten. Mit dem Duft von Kaffee wurde es dunkel.
© Ulrich P. Hinz
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