Kapitel 3: Judy Garland und die dicke Nachbarin

(Judy Garland und die dicke Nachbarin)
Die Türklingel dröhnte lauter als sonst. Eine physikalische Unmöglichkeit. Betrachtet man aber den Status der psychologischen Aufgewühltheit einer Versuchsperson, zeigt sich eindrucksvoll, dass die Physik Grenzen hat. Und an einer dieser Grenzen stand Noah. Auf der Fensterbank. Mit dem Handy in der Hand. Im sechsten Stock. Seine Knie hatten angefangen zu zittern. Er stopfte das Handy zurück in die Tasche und ein letzter Rest Überlebensinstinkt veranlasste sein Gehirn dazu, eine 180 Grad Drehung einzuleiten. Über Exaktheit lässt sich nicht streiten. Aber da das Zittern der Knie stufenlos in ein Hüpfen übergegangen war, hatte Noah plötzlich das Gefühl, auf einem Hochseil zu stehen. Mitten über den Wolkenkratzern von New York. Ohne Netz und doppelten Boden. Man kennt solche Gefühle. Das Gehirn versuchte, sich zusammenzureißen, und fuhr den linken Arm in Richtung Fensterrahmen aus. Der Wiedereintritt in die Erdatmosphäre einer Astronautencrew holpert vermutlich ähnlich.
Wobei man nicht vergessen darf, dass die menschliche Hand ein wahres Wunderwerk der Natur darstellt. Unsere Vorfahren hangeln sich damit bereits seit Urzeiten in den Baumkronen dieser Welt von Ast zu Ast. Solche genetischen Programme sitzen tief. Biologen könnten das möglicherweise erklären. Computerexperten ganz bestimmt. Die Türklingel schepperte schon wieder. Jeder Theaterbesucher weiß, was es heißt, wenn die Glocke zum zweiten Mal läutet. Und die Schauspieler wissen genau, was Noah in diesem Moment fühlte.
Die Hand schnappte zu. Wie ein Karabinerhaken an der Steilwand in die dafür vorgesehene Öse. Fensterrahmen sind glücklicherweise so konstruiert, dass sie das aushalten. Noah zog sich zurück in das Zimmer und knallte der Länge, Höhe und Breite nach auf den Boden. Physikerdenke. Problematisch war lediglich die Tiefe. Es klopfte.
»Noah, warum dauert das so lange?«
»Moment noch, ich komm schon.«
An die Teppichperspektive sind überwiegend Kinder gewöhnt. Und nach einer viel zu kurzen Gedenkminute stand Noah wieder mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen. Immer noch mit leicht gebutterten Knien. Doch trotz der Schwerkraft erreichte er schließlich seine geliebte Haustür. Wobei die Liebe zu einer Tür nur auf den ersten Blick seltsam scheint. Umso normaler wirkt alles, wenn man die Hand ganz wie selbstverständlich auf die Klinke legt, sie herunterdrückt und ohne durch den Spion zu schauen daran zieht.
»Man Alter, hast du dir einen runtergeholt, oder was?« Sie drückte sich an Noah vorbei. »Ich muß an deinen Rechner.«
»Judy, das ist gerade schlecht.«
»Ist es das nicht immer?«
»Also sonst nicht. Was ist mit deiner Kiste?«
»Meinst du meinen fetten Arsch, oder was?« Sie grinste.
»Du weißt, was ich meine.«
»Der spinnt zur Zeit voll. Ein einziges, monstermäßiges Abgeflimmer. Da kann man unmöglich reinglotzen. Grafikkarte, schätz ich mal.«
»Hm, OK. Willst du einen Kaffee?«
»Wann nicht?«
Der Vorteil einer offenen Bauweise ist, dass wenn man in der sogenannten Küche, die eigentlich keinen eigenen Raum ausmacht, selbst wie sie ihn einnimmt, einen Kaffee kocht, zieht der Kaffeeduft bis weit ins Landesinnere. Ein Phänomen, das allen Kaffeetrinkern große Freude bereitet. Selbst Teetrinker mögen das. Ein Nachteil wäre es, wenn Klo oder Schlafgemach in ähnlicher Weise agieren würden. Doch der Architekt wusste das glücklicherweise zu verhindern. Zwei Zimmer, integrierte Küche, Bad. Größe mindestens. 45 qm. Kaltmiete verdammt billig. Dösel-Immobilien. Der Makler mit Leidenschaft. Rufen Sie uns jetzt an.
»Du wirst es nicht glauben. Wir haben einen Gig. Samstag im Clock.«
»Kühl.«
»Ja, ziemlich kühl. Ernie kennt da den Zapfer und hat ihn voll gequatscht. 400 Mäuse sind drin.«
»Wowi, das sind hundert für jeden.«
»Yep. Ich hab dir schon oft gesagt, du solltest bei uns einsteigen.«
»Und ich hab dir schon mindestens genau so oft gesagt, dass ich kein Jazzgitarrist bin. Und außerdem total aus der Übung.«
»Wen juckt’das?«
»Mich.«
»Man, dagegen gibt’s Pillen. Auf einer Bühne zu stehen, ist einfach das geilste.«
»Ja, eine Bühne, die kleiner ist als ein Hamsterkäfig.«
»Uhhh, haben wir heute schlechte Laune?«
»Miss Judy Garland, du bist eine Nervensäge.«
»Ja, aber eine umwerfende, mit mehr Sexappeal als für die meisten gut ist.« Sie lächelte und warf ihm einen Kussmund zu.
»Was machst du da eigentlich?«
»Ein Plakat.« Sie tippte und klickte. E-Sportler sind dagegen lahme Säcke. Ihre Locken wirbelten hin und her. In Noahs Wahrnehmung mogelte sich irgendwie das Bild eines der Puppenhäuser seiner Mutter rein. Aber er dachte nichts dabei.
»Hier: Judy Tips and the weasels. Samstagabend um 10 im Clock. Eintritt frei. Wie klingt das?«
»Na ja, ganz OK schätze ich.«
»Mehr als OK, man. Kurz und prägnant. Kann ich das 100-mal drucken?«

© Ulrich P. Hinz

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