Kapitel 2: Igel und Indianer

(Igel und Indianer)
Das Wetter hatte gute Laune. Ein paar Wolken tummelten sich verspielt, ohne große Leidenschaft, wie übrig gebliebene Requisiten nach einer Aufführung an dem, was die Menschen gedankenlos als Himmel bezeichnen. Und das nicht im religiösen Sinn. Denn jeder weiß, der Himmel ist in uns. Noah wusste das nicht. Vielleicht hatte er es auch einfach nur vergessen. Stand stattdessen in einem Fenster des 6. Stocks und glotzte unsicher diese Wiese an, die er natürlich kannte. Immerhin wohnte er schon länger hier. Da bleibt das nicht aus. Aber Zeit ist eine verlogene Schlampe, die alles tut, um sich irgendwie in den Vordergrund zu drängeln. Zeit die, Substantiv, feminin, existiert nach Augustinus überhaupt nicht. Herkunft, mittelhochdeutsch, althochdeutsch zīt, eigentlich = Abgeteiltes, Abschnitt. Duden Blah, Blah.
Es hatte ihn schon immer fasziniert, dass die Indianer ihre Zeit in Monden maßen. Als Physiker macht man sich so seine Gedanken. T wie Tod spielt in der Physik ja eine große Rolle. Also der Buchstabe. In diesen komplizierten Formeln tummelt sich oberflächlich immer ein Gewusel aus Zahlen, Buchstaben und anderem Quatsch. Im Grunde sind Physiker die eigentlichen Dichter der modernen Zeit. Sie und die Mathematiker. Andererseits sind sie alle verrückt. So traurig das auch klingt. Aber es stimmt.
Plötzlich kam ein Igel gemächlich daher gewatschelt. In lustigen, kleinen Trippelschritten wackelte er wie ein überfüllter Planwagen in den alten Western nahezu zielstrebig seines Weges. In einer Fabel hätte der jetzt ganz bestimmt hochgeschaut und gesagt: »Mein guter Junge, was zum Geier machst du da?« Und Noah würde vielleicht so etwas sagen wie: »Ich bin mir nicht sicher.« Und der Igel hätte köstlich gekichert und gesagt: »Haben deine Eltern dir denn nicht beigebracht, dass du kein Vogel bist?« Noah dachte kurz nach und sagte: »Nicht direkt. Aber du bist ein schlauer Igel, der seinerzeit den großen Hasen besiegt hat. Du könntest mir helfen.«
Der Igel musste laut lachen und machte ein Tänzchen um die eigene Achse. »Jungchen, das mit dem Hasen war eine Bluff, ein fauler Zauber. Und gute Zauberer verraten niemals ihre Tricks. So was mußt du doch wissen. Wie zur Hölle ist es dir gelungen, mit so wenig Gehirn auf diese Fensterbank zu klettern?«
»Du weißt schon, dass mein Gehirn bestimmt 30 mal größter ist als deins.«
»Alter, ich weiß nicht mal, warum ich mit dir quatsche.« Sie sahen sich in die Augen. Wie Kontrahenten eines Revolverduells in den alten Western. Dramatische Musik, wie bei den zwei glorreichen Halunken. Schnittsprünge von einem Augenpaar zum anderen.
»OK, ich werde dir ein Geheimnis verraten«, sagte der Igel schließlich. »Du hast gesagt, du wärst dir nicht sicher. Ich aber sage dir, das einzige was wirklich hundertprozentig sicher ist und immer sein wird, ist und bleibt der Tod. Und da scheinst du auf einem sehr guten Weg zu sein.«
»Na toll. Das ist ja mal was ganz Neues. Wenn du mich irgendwie aufbauen willst, … es funktioniert…«
»Unterbrich mich nicht. Denn darüber hinaus ist der Tod noch wesentlich mehr. Er ist – Trommelwirbel – das eigentliche Happy End. Und das in seiner reinsten, schönsten und wahrhaftigsten Form. Der fantastische Wiedereintritt in das absolute Nichts.«
»In der Physik gibt es kein Nichts. Vielleicht im Vacuum. Aber…«
»Ja genau, und die Erde ist eine Scheibe. Eine Dartscheibe. Werd endlich erwachsen Junge – und spring.«, sagte der Igel und setzte sich wieder in Bewegung. Noah wurden langsam die Knie weich.
»Das war’s? Das war alles? Film vorbei und Ende? Wie in aller Welt soll mir das weiterhelfen?«
»Ich habe nie gesagt, dass ich dir helfe. Nur, dass ich dir ein Geheimnis verrate.«
»Das ist kein Geheimnis, du aufgeblasenes Nadelkissen! Geheimnis, das, Substantiv, Neutrum. Bedeutung a) etwas, was geheim bleiben soll. Bedeutung b) etwas, was nur Eingeweihten bekannt ist. Herkunft, von Martin Luther (1483–1546) für lateinisch Mysterium gebraucht. Das weiss sogar der Duden.«
»Das sind doch nur Begrifflichkeiten. Völlig nutzlos und von der Wahrheit so weit entfernt, wie das Universum groß ist. Das wußte schon Pilatus.«
»Du wirst mir also nicht helfen.« Noah schloss die Augen. Atmete tief aus. Der Igel sah ihn an und grinste. »Also schön, also gut. Eine der ältesten und größten Wahrheiten dieser Welt lautet bekanntlich: Wie innen so außen.«
»In welcher Größe misst man Wahrheit?«
»In der Klugscheißergröße. Also, da du ja irgendwie auf Physik und so stehst, werde ich dir etwas an die Hand geben, um diese große Wahrheit möglicherweise besser zu verstehen, vielleicht sogar zu begreifen. Es heißt: Wer immer das Außen für alles verantwortlich macht, bei dem muss es innerlich ziemlich leer sein.«
Und genau in diesem Moment trällerte die Melodie aus dem Film der Exorzist in Noahs Hosentasche. Scheiß Handy. Er hätte fast das Gleichgewicht verloren. Konnte sich aber im letzten Moment fangen.
»Hallo?«
»Hier ist deine Mutter. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass wir am Samstag Tante Helgas 70. Geburtstag feiern. Sei bitte pünktlich.«
»Äh, ja, sicher.«
»Und denk an ein Geschenk.«
»Natürlich.«
»Gut, dann bis Samstag.«
Der Igel war nicht mehr zu sehen. Irgendwo gurrten ein paar Tauben. Seine Mutter konnte Tauben nicht ausstehen. Vielleicht würfelt Gott tatsächlich nicht.

© Ulrich P. Hinz

Schreibe einen Kommentar