Kapitel 1: Noah C. Fische und Physiker

(Noah C. Fische und Physiker)
In der modernen Käfighaltung, die der normalsterbliche Bürger Wohnung nennt, und das mit gutem Grund, erleben wir gelegentlich Überraschungen. Diese fallen üblicherweise kaum ins Gewicht. Ist die Polizei aber erst einmal gerufen, gibt es kein Zurück.
Noah C. stand bei weit geöffnetem Fenster mit gekrümmten Rücken auf der Fensterbank. Sein Blick fiel vom 6. Stock in direkter Linie auf die unten liegende Wiese. Wobei abschließend nicht bewiesen werden kann, ob ein Blick wirklich fällt, oder ob die Wiese die Augen von unten ganz einfach nur anspringt.
Noah C., ein Mann in den besten Jahren. Auch wenn er nicht wusste, ob davor oder danach. Seine Eltern beschrieben ihn im Bekannten- und Verwandtenkreis als blasses Genie, der früh aus der Bahn geworfen wurde und mit dem auch sonst nicht viel zu holen war. Wäre diese Familie ein Löwenrudel gewesen, Noah hätte seine Kindheit vermutlich nicht überlebt.
Er selbst sah in sich den gescheiterten Physiker, der vorübergehend sein Dasein in der Werbung fristete und dabei auf das ein oder andere Wunder wartete. Geboren im Sternzeichen der Fische. Und man sagt ja, der Fisch beginnt am Kopf zu stinken. Aber das ist falsch. Es beginnt nicht am, sondern im Kopf. Drückt sich Stück für Stück durch die Schädeldecke, um schließlich den gesamten Wohnbereich zu erobern. Ab einem gewissen Punkt zieht es dann hinaus in die Welt. Eine nach Meeresbrise stinkende Welt, deren Gefahrenpotenzial seit dem Urknall maßlos unterschätzt wird. Andererseits eine Welt, die Noah selbst erschaffen hatte. Wir alle machen das.
Steht man aber erst einmal im 6. Stock auf einer Fensterbank, ist die schöne Aussicht eine von vier Möglichkeiten. Noah hörte sein Herz wummern. Im Hals und Gehirn. Durch die Knochen bis in die Schwanzspitze. Der Atem stotterte. Rock’n Roll im Magen. Elvis wäre glücklich gewesen. Auf dem Klo stirbt es sich anders. Nur die Einsamkeit ist dieselbe. Wenn auch nicht die gleiche. 
Ein Kribbeln zog durch den ganzen Körper. Tanzte von Ost nach West. Norden und Süden im freien Fall. Ohne Fallschirm und Handgepäck. Noahs Mund war trocken. Das Schlucken fiel schwer. Und im Rücken zog es wie Hechtsuppe.
Rückgrat das, Substantiv, Neutrum, kann metaphorisch positiv als Mutverstärker, im negativen als Waschlappentendenz ausgelegt werden. Herkunft, 15. Jahrhundert; vgl. Grat. Duden sei Dank.

© Ulrich P. Hinz

Schreibe einen Kommentar