Kapitel 15: Pizza und ein Bad mit Seebestattung

(Pizza und ein Bad mit Seebestattung)
Der Abend hatte sich in diesen Tag verbissen wie Noah in seine Pizza, die er bestellt hatte. Die blaue Stunde lag im Sterben. Einige Sterne klebten am Himmel. Das letzte Stück Pizza lag auf dem Karton und grinste Noah an. Er nahm es hoch und betrachtete alle Seiten. Sein Magen war eigentlich schon voll. Aber für ein Stück Pizza würde sich wohl noch ein Plätzchen finden lassen. Er biss rein, kaute genüsslich und schaute zu den Sternen. Der Igel wanderte durch seine Gedanken. Kyros hatte gesagt, die Welt werde ihn nie vergessen. Aber Noah war sich nicht sicher, was er damit gemeint hatte. Wie sollte die Welt sich erinnern? Noah wusste nicht einmal, was die Welt überhaupt war. Er stopfte den letzten Bissen in seinen Mund und klappte den Karton zu. Dann schlurfte er zur Küche rüber. In einer Ecke stand ein Turm aus Pizzakartons. 12 Stockwerke hoch. Er setzte das 13. drauf und grinste. Die Pizza von Fluffo war einfach die Beste. Und der Turm eine Hommage an die Künstler.
Die Tür zum Badezimmer stand offen. Noah knipste das Licht an und trat ein. Er schob die Tür zu, stellte sich vor das Waschbecken und ließ das Wasser laufen. Die Hände waren schnell gewaschen. Das Spiegelbild über dem Becken sah genau hin. Und beim Abtrocknen trafen sich ihre Blicke. Noah hielt diesmal stand. Das Gesicht entgleiste zu einer Fratze. Er riss die Augen weit auf. Konnte sich nicht dagegen wehren. Der Wahnsinn im Blick. Seine Mundwinkel tief runtergezogen. Der Kopf rückte leicht nach hinten. Zwei Raubtiere kurz vor dem tödlichen Sprung. Mit dem Ausdruck eines Salvador Dalís im Gesicht. Ein leises Knurren, von dem er nicht wusste, wo es herkam. Dann fletschten sie die Zähne, wie ein Hund, der kurz davor war, zuzubeißen. Aber die Spannung rund um den Mund wurde schlimmer. Sie dehnte sich in die Wangen aus, die stark nach oben zogen, zu einem Lächeln bis an die Schmerzgrenze. Die Augen quetschten sie unter großem Druck in zwei schmale Schlitze. Das Licht flackerte kurz. Und dann wurde Noah von der Sonne geblendet. Sie standen sich auf einer weiten Wiese gegenüber. Jeder mit einem Schwert in der Hand.
»So also sieht man sich wieder.«, sagte das Spiegelbild und lachte. Es trug eine Maske aus der griechischen Komödie und fuchtelte mit dem Schwert in der Luft herum, ohne den Blick von Noah zu lösen.
»Wo sind wir?«, fragte Noah. Seine Stimme zitterte und er sah sich um.
»Auf einem Kampfplatz.«, sagte es.
»Kampfplatz? Was soll ich auf einem Kampfplatz? Ich will nicht kämpfen.«
»Und genau deswegen sind wir hier.«, sagte es und stürmte mit dem Schwert auf Noah zu. Der trat ein paar Schritte zurück. Dann hob er sein Schwert und parierte den Schlag. Das Spiegelbild lachte und tänzelte wieder in Position. Die Wucht des Schlages vibrierte in Noahs ganzem Körper. Und der Klang der Klingen dröhnte in seinen Ohren.
»Wie hab ich das gemacht?«, fragte er und schaute irritiert auf sein Schwert.
»Du hast reagiert. Actio und Reactio. Das kennst du doch. Nicht wahr?«
»Aber ich kann gar nicht kämpfen.«
»Das ist nicht ganz richtig. Du kannst schon, du willst es nur nicht. Jedenfalls redest du dir das seit vielen Jahren ein, dass du es nicht kannst. Wenn du es aber wirklich nicht könntest, wärst du jetzt tot.«, sagte es und lachte wieder.
»Das macht dir wohl Spaß, was?«
»Nein, das macht es nicht. Seit Jahren sehe ich dir dabei zu, wie du dich vor der Welt und dem Leben versteckst.«, sagte es und stürmte erneut auf Noah los, der ihm diesmal geschickt auswich.
»Du drückst dich vor alles und jedem. Dein Leben hast du einfach an die Seite geschoben. Du lebst es nicht mehr, du existierst bloß noch vor dich hin.« Er lief wieder auf Noah zu und ihre Klingen trafen sich. Einmal. Zweimal. Alle guten Dinge sind drei.
»Und was willst du jetzt machen? Willst du mir die Arme und Beine abschlagen, wie bei den Rittern der Kokosnuss ?«, schrie Noah.
»Was würde das ändern? Du hast bereits mehr verloren als nur deine Arme oder Beine. Ja, sie ist tot. Sie und das ungeborene Leben in ihr. Das ist hart aber nicht zu ändern. Und außerdem viele Jahre her. Wir haben sie damals beerdigt. Nicht dich. Steig endlich aus diesem Grab und lebe.«
Noah sank auf die Knie.
»Ich kann nicht.«
»Ja, dein Lebenswille ist dünn. Aber er ist noch nicht tot. Und du hast dich bereits für das Leben entschieden. Du bist nicht gesprungen.«
Noah sah ihn an. Schaute in diese grinsende Maske.
»Ich…, ich war einfach zu feige.«
»Nein. Du hattest eine Wahl. Und glaub mir, es wäre einfacher gewesen, zu springen. Du bist nicht gesprungen, weil du feige warst, sondern weil du dich entschieden hast, es nicht zu tun. Auch, wenn dir das nicht bewusst war. Mut kennt viele Wege. Und jeder einzelne davon beginnt mit einer Entscheidung.«
»Nein, ich hatte einfach Schiss. Bläh es nicht künstlich auf.«, sagte Noah und sein Blick sank auf den Rasen. Das Spiegelbild lachte wieder.
»Was sind wir doch für ein feiger kleiner Scheißkerl?«, sagte es und drückte Noah die Schwertspitze an den Hals, »Und du spielst sie gar nicht schlecht, diese Rolle. Aber vertrau mir, du bist nur die Zweitbesetzung. Der Notfallplan. Wenn du verstehst, was ich meine. Irgendwo da drin steckt die wahre Hauptrolle.« Es umkreiste mit dem Schwert Noahs Herz. »Und wir sind verdammt nochmal nicht als Zweitbesetzung auf diese Welt gekommen. Niemand ist das. Also hol sie dir endlich wieder zurück, deine Hauptrolle.«
Eine leichte Brise zog um Noahs Kopf.
»Und wie bitte schön soll ich das anstellen?«
»Du brauchst ein Ziel. Nach Ninas Tod hast du alles über Bord geworfen. Du sitzt in deinem kleinen Boot und überlässt das Ruder dem Wind. Und für eine gewisse Zeit ist das auch durchaus nicht falsch. Nur einen Hafen wirst du so niemals finden. Ein mieses Klischee, für jemanden, der nicht an Zufälle glaubt, meinst du nicht auch?«
»Kausalität.«
»Richtig. Doch wohin bringt sie dich, deine Kausalität, wenn du das Ruder nicht in der Hand hast? Wenn du nicht der bist, der die Ursachen setzt?«
»Ich weiß nicht.«
»Genau. Du weißt es nicht. Ich stelle mir gerade einen schlichten Grabstein vor. Irgendwo ruht Noah C.. Er blieb verschollen auf See. Wie klingt das für dich?«
Sie sahen sich an. Noah fühlte die Schwertspitze an seinem Herzen.
»Du hast gut reden. Aber Ziele findet man nicht einfach mal so. Sie hängen nicht an Bäumen oder liegen auf der Straße.«
»Das stimmt. Aber sie sind in dir. Das waren sie immer schon. Und wenn du in die Zeit vor Ninas Tod zurückgehst, kannst du sie sehen diese Ziele. Du kannst dich an sie erinnern. Und dann weißt du, dass sie einmal da waren. Dass sie immer da sein werden. Selbst, wenn dir die alten Ziele nichts mehr bedeuten. Wir setzen wir uns neue, allein deshalb, weil wir wissen, dass wir es schon einmal konnten.«
»Du weißt das vielleicht. Ich bin mir da nicht sicher.«
»Ja, ich weiß das. Aber du scheinst zu vergessen, mit wem du hier redest. Was ich weiß, weißt du auch.« Noah spürte, wie der Druck der Schwertspitze auf sein Herz zunahm.
»Du weißt einen Scheiß. Wer bist du denn schon? Ein lächerliches Abbild. Eine bloße Reflexion, die es ohne einen Spiegel und Licht gar nicht geben würde. Was du weißt, ist immer nur eine Momentaufnahme. Wertloser als ein Foto ohne Dauer und Inhalt. Du bist nicht mehr als eine leere Hülle. Ein Witz der Physik. Und nicht mal ein guter.«
»Ja, die Natur ist ein Komiker. Und Gott selbst kommt gern als Narr daher. Glaubst du das wirklich?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«
»Dann glaube an uns. Selbst wenn du mich für einen physikalischen Witz hälst. Aber ich höre nicht auf zu existieren, nur weil du die Augen schließt. Aus dem Alter sind wir raus.«
Noah konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. So sehr er es auch versuchte. Er sah sich als Vierjährigen, der vor dem Spiegel stand, sich die Augen zuhielt und lachte.
»Und wie fangen wir das an?«
»Wünsche. Du hast verlernt, zu wünschen. Wünschen macht das Leben schön. So banal das auch klingt, aber es stimmt. Denk an deine Wunschzettel, die du als Junge an das Christkind geschrieben hast. Wie du es kaum noch erwarten konntest. Wie diese Vorfreude dich durch die Weihnachtszeit trug. Und dieses Gefühl ist es, das das Wünschen so wertvoll macht. Ob die Wünsche nun erfüllt werden oder nicht spielt dabei keine Rolle.«
»Aber ein Wunsch ist kein Ziel.«
»Und doch entsteht jedes Ziel erst durch einen Wunsch. Und ein Ziel ohne den Wunsch, es zu erreichen, ist wie ein Haus ohne Fundament.«
Die grinsende Maske leuchtete in der Sonne. Und eine seltsame Stille lag in der Luft.
»Also geh jetzt da raus und lebe.«, sagte es und stieß das Schwert durch sein Herz.
Noah riss einmal tief nach Luft. Das Handtuch fiel auf den Boden. Das Bad war ein Bad. Und das Spiegelbild nur ein Spiegelbild. Sie sahen sich an. Das Gesicht wirkte ruhig und entspannt, wie kurz vor einem Lächeln.

 

© Ulrich P. Hinz

Schreibe einen Kommentar