Kapitel 19: Egotrip einer Fliege und russisches Seelenroulette

(Egotrip einer Fliege und russisches Seelenroulette)
Um 10:50 Uhr stand Noah vor dem großen Haus. Braune Tür mit silbernem Knauf. Sechs Schilder hingen an der Wand. 12 Klingeln. Er drückte den Knauf und die Tür quietschte auf. 12 Briefkästen auf der rechten Seite. Der Flur erinnerte ihn an Berlin. Eine prächtige Holztreppe. Jede einzelne Stufe war mit rotem Teppich belegt. Noah setzte seine Hand auf das Geländer. Streifte sanft über das glatte Holz. Stufe um Stufe. Solche Treppen sieht man heut selten. Um eine Kurve herum in den ersten Stock. Zweit Türen. Rechts eine Internetfirma. Links ein Notar. Es roch nach Kaffee. Noah stieg weiter. Er war leicht verliebt in diese Treppe. Das gestand er sich ein. Zweiter Stock, rechte Seite. Sie haben ihr Ziel erreicht. Junghans und Mohnfeld. Seelenroulette.
Er drückte den Knauf und mit einem Klicken öffnete die Tür. Er schob sie auf und trat ein. Hinter dem Schreibtisch die Frau. Sie schaute von ihrem Monitor hoch und lächelte.
»Herr C., guten Morgen. Schön, dass Sie da sind.«
»Ich freu mich auch.«, erwiderte Noah und grinste hilflos.
»Nehmen Sie bitte noch einen Augenblick im Wartezimmer Platz. Ich sag Ihnen dann gleich Bescheid.«
»OK.«
Er drückte sich an der Wand lang bis zu einer Milchglastüre. Er öffnete sie und sein Blick fiel auf eine ältere Frau. Zottelige, lange, weiße Haare.
»Guten Tag.«, sagte Noah.
»Tag …«, kam leise aus ihrem Mund.
Der Raum war klein. 5 Stühle und ein Ficus. Die Garderobe und das Tischchen mit Lesekram. Noah nahm Platz am Fenster, durch das die Sonne schielte.
Er holte sein Handy aus der Tasche und stellte es in den Flugmodus. Stopfte es zurück und glotze aus dem Fenster. Durch die Glastür polterten ein paar Stimmen. Klang nach Abschied. Die alte Frau hatte eine Tasche auf ihrem Schoß, die sie fest umklammerte. Ihr Rücken war gekrümmt. Von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf. Sie war klein und zierlich. Das Gesicht mit tiefen Furchen durchzogen. Die Tür ging auf und die Empfangsdame sagte:
»Frau Buschenko.«
Sie erhob sich und folgte. Noah sah ihr nach. Dann war er allein. Gedanke reihte sich an Gedanke. Nichts Gescheites dabei. Was erzähl ich gleich? Was nicht? Die alte Dame sah nicht gesund aus. Die Empfangsfrau hatte schöne Augen. Der Ficus könnte mal wieder gegossen werden. Die Uhr zeigte 11:02. Die Erde drehte um die eigene Achse, ohne sich etwas dabei zu denken. Noah spielte mit seinen Fingern. Stützte die Ellbogen auf die Knie. Eine Statistik besagte, dass der Mensch im Laufe seines Lebens mehr als ein Jahr mit Warten verbringt. Die Tür ging auf. »Herr C.«
Noah nickte und erhob sich. Im Gänsemarsch lief er hinter ihr her. Sie wies auf die offene Tür und lächelte. Er trat ein.
»Herr C., ich grüße Sie.«, sagte Mohnfeld. Er saß hinter einem alten Schreibtisch. Die Empfangsfrau schloss die Tür.
»Nehmen Sie bitte Platz.«, sagte er und zeigte auf die beiden Ledersessel. Die standen auf einem persischen Teppich. Dann tippte er noch etwas in den Laptop.
Noah wählte den linken Sessel. Er ließ sich fallen. Das weiche Leder fühlte sich gut an. Sein Blick wanderte die Bücherregale entlang. Eine Wand voll mit Wissen. Die Sonne schaute durch das gekippte Fenster hinter dem Schreibtisch.
Mohnfeld klappte den Laptop zu und stand auf.
»Ich muss mich noch entschuldigen, wegen des abgesagten Termins. Wir hatten einen Todesfall in der Familie. Der Hund meiner Tochter, wissen Sie.«
»Schon OK.«
»Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Tee, Wasser?«
»Kaffee wäre gut.«
Mohnfeld ging an die Kaffeemaschine, nahm eine Tasse und drückte ein paar Knöpfe. Die Maschine ratterte los.
»Milch, Zucker?«
»Schwarz wie meine Seele.«, erwiderte Noah.
»Stimmt, das hatten wir schon.«, sagte Mohnfeld und lachte vorsichtig.
Er nahm die Tasse und drückte sie Noah in die Hand.
»Danke sehr.«
»Wie geht’s Ihnen heute?«, fragte Mohnfeld und setzte sich in den rechten Sessel.
»Im großen und ganzen OK.«, sagte Noah und nippte an dem Kaffee.
»Hatten Sie nicht Urlaub?«
»Hab ich noch. Bis Ende nächster Woche.«
»Schön. Und sind Sie schon weg gewesen? Oder wollen Sie noch?«
»Paris stand kurz zur Debatte. Aber ganz sicher bin ich noch nicht.«
»Paris. Gute Stadt für einen Kurztrip.«
Mohnfeld war um die 50. Schon fast ganz grau. Ein schlanker, gutmütiger Mann.
»Über was möchten Sie denn heute sprechen?«
»Haben Sie mal den Steppenwolf gelesen?«, fragte Noah.
»Sicher. Auch wenn es lange her ist.«
»Im Traktat gibt es eine Stelle über den Selbstmord. Können Sie sich daran erinnern?«
»Dunkel.«
»Es heißt, der Selbstmord sei eine Art Lebensgefühl. Und längst nicht jeder, der sich umbringt, ist wirklich ein Selbstmörder in diesem Sinne. Ganz im Gegenteil.«
Sie sahen sich an.
»Und Sie? Was für ein Typ Selbstmörder sind Sie?«, fragte Mohnfeld ruhig.
Noah dachte kurz nach.
»Ich weiß es nicht.«, sagte Noah und senkte den Kopf. »Die meisten dieser Selbstmörder würden es niemals tun.«
»Warum nicht?«
»Weil sie wissen, was für ein großes Geschenk das Leben im Grunde ist. Auch, wenn sie nicht damit fertig werden.«
»Mit dem Wissen oder mit dem Leben?«
»Sowohl als auch. Selbstmord sei Feigheit vor dem Feind.« Noah sah ihn an.
»Nun, das klingt sehr militärisch. Und es setzt voraus, dass das Leben ein Krieg ist. Mehr noch. Das Leben ist nicht nur der Krieg, sondern darüber hinaus auch der Feind. Das sind ziemlich dicke Brocken. Finden Sie nicht?«
»Es ist nur eine Metahpher.«
»Sehen Sie das Leben so?«
»Sie nicht?«
Mohnfeld lächelte.
»Nun, es ist eine mögliche Sichtweise. Aber eben nur eine von vielen. Und wenn Sie das Leben so sehen, wird es sich wohl so darstellen.«
»Nur weil ich ein Bild betrachte, werde ich nicht zum Bild.«
»Das Leben ist bekanntlich mehr als nur ein Bild. Aber ich vergaß den Buddhist in ihnen. Von wegen, der Finger der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond. Richtig?«
»Glauben Sie das?«
»Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das sagt: Wenn der Weise auf den Mond zeigt, sieht der Idiot nur den Finger. Glauben Sie das?«
Noah grinste.
»Wissen Sie, was Freud über Selbstmord gesagt hat?«, fragte Mohnfeld.
»Freud ist überholt.«
»Das ist Platon auch und trotzdem lieben Sie ihn. Richtig?«
Noah nickte.
»Also Freud sagte, dass jeder Selbstmord letztendlich ein verhinderter Mord sei.«
»Ich kenne das Zitat.«
»Und?«
»Nun, ich halte das für falsch. Aber ich bin auch kein Psychologe.«
»Warum halten Sie das für falsch?«
Noah nahm einen großen Schluck Kaffee. Spielte mit den Finger an der Tasse herum.
»Muss ich drüber nachdenken.«
»Gut. Machen Sie das.«
Noah leerte den Kaffee und stellte die Tasse neben den Sessel.
»Denken Sie in letzter Zeit viel über Suizid nach, Herr C.?«
»Hm, taucht immer wieder mal auf. Aber ich verfolge es nicht weiter. Ich werde es nicht tun. OK?«
»OK.«
Am Fenster summte eine Fliege.
»Sie haben eben gesagt, dass, wenn ich das Leben so sehe, es sich so darstellen wird. Glauben Sie das wirklich?«
»Nun, Sie kennen doch bestimmt den Satz, dass Energie stets der Aufmerksamkeit folgt. Und Ihnen als Physiker muß ich ja wohl kaum erleutern, was damit gemeint ist. Oder?«
»Nein, auch wenn das kein physikalisches Gesetz ist.«
»Nicht? Ich dachte, die Quantenphysik wäre mittlerweile schon weiter. Aber gut. Vielleicht hatte ich es auch einfach nur gehofft.«, sagte Mohnfeld und lächelte.
»Energie folgt der Aufmerksamkeit.«, dachte Noah laut.
»Ja. Nehmen wir an, sie richten ihre Aufmerksamkeit überwiegend auf die negativen Aspekte des Lebens. Für wie wahrscheinlich halten sie es dann, dass etwas Positives dabei herauskommt? Das Ego verlangt nach Bestätigung.«
»Hm, das klingt irgendwie nach Glücksbärchiphilosophie.«
Mohnfeld lächelte.
»Zugegeben, es ist sehr verkürzt. Aber ich weiß, dass Sie darüber nachdenken werden.«
Noah rutschte in seinem Sessel hin und her. Das Leder knautschte.
»Hat ihr verehrter Einstein nicht einmal gesagt, dass man Probleme nicht mit demselben Denken lösen kann, mit dem man sie geschaffen hat?«
»Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Aber was ist mit den Problemen, die nicht aus dem Denken kommen. Der Tod meiner Frau zum Beispiel.«
»Natürlich gibt es Umstände, auf die wir keinen Einfluss haben. Die wird es immer geben. Und darüber haben wir ja auch schon gesprochen. Aber lassen Sie uns heute doch einmal auf die andere Seite schauen. Welche Möglichkeiten haben wir da?«
»Lassen Sie mich raten, Positives Denken?«
»Na ja, viele Menschen machen sich darüber lustig. Es ist ja auch wesentlich leichter, in gewohnten Denkstrukturen, die sich darüber hinaus oft bewährt haben, zu bleiben. Wie schon gesagt, das Ego verlangt nach Bestätigung. Und an der Oberfläche ist das Ego nicht auszutricksen. Eine Änderung der Denkgewohnheiten bedeutet Arbeit. Das ist zweifelsohne richtig. Aber ich glaube, dass die Mühe sich lohnt. Henry Ford hat einmal gesagt, ob du denkst, dass du etwas kannst, oder ob du denkst, dass du es nicht kannst, du wirst auf jeden Fall recht behalten. Man muss sich im Grunde nur entscheiden. Und sie sind ein intelligenter Mensch. Warum also sollten Sie eine Entscheidung gegen sich treffen.«
Noah sah ihn lange an.
»Ich denke, also bin ich.«, sagte er und grinste.
»Und Sie sind sogar das, was sie denken. Hat Buddha das nicht gesagt?«
»Im Moment denke ich, dass ich noch furchtbar gerne einen Kaffee hätte.«
»Gut, schließen sie Ihre Augen.«
Noah sah ihn fragend an.
»Ja, bitte einmal die Augen schließen.«
Noah schloss.
»Sehr gut. Und jetzt entspannen Sie sich. Sie sitzen in diesem angenehmen, weichen und bequemen Sessel und entspannen sich. Sie werden ruhiger und ruhiger. Sie fühlen, wie alle Spannung aus ihrem Körper entweicht. Ihre Gedanken kommen zur Ruhe. Sie fühlen eine wohlige Schwere, die sich in ihrem gesamten Körper ausbreitet. Und gleichzeitig fühlen Sie sich leicht wie eine Staubflocke. Es geht ihnen gut. In diesem Moment fühlen Sie sich rundum wohl. Und Sie genießen dieses angenehme Gefühl. Es ist, als ob ein Lächeln sich auf ihr Gesicht legt. Und dieses Lächeln krabbelt sanft über ihren ganzen Körper und umschließt ihn wie ein warmer, seidiger Kokon. Sie sind ruhig und entspannt. Ruhig und entspannt. Sie sind ganz bei sich. Ruhig und entspannt.«
Mohnfelds Stimme floss wie Honig durch den Raum.
»Und jetzt stellen Sie sich eine Tasse Kaffee vor. Eine schöne Tasse. Gefüllt mit dem schwarzen Nektar der Götter. Heißer Dampf tanzt in die Welt. Sie atmen in das Aroma. Der Duft verzaubert. Das Bild steht deutlich vor ihrem geistigen Auge. So deutlich, dass Sie danach greifen könnten. – Aber Sie lassen es ziehen. – Es löst sich auf wie Schnee in der Sonne. – Sie fühlen eine tiefe Stille. Genießen Sie diese Stille. Seien Sie diese Stille.«
Mohnfeld hielt inne.
»Und jetzt sehen Sie mich in meinem Sessel sitzen. Sie sehen mich aufstehen und zur Kaffeemaschine gehen. Sie hören ein paar Geräusche und dann den Kaffee fließen. Der Duft verteilt sich im Raum. – Sie sehen, wie ich die Tasse nehme und zu ihnen zurückkehre. Ich überreiche ihnen ihre Tasse Kaffee und Sie nehmen sie dankbar an. Schauen auf die Crema. Führen die Tasse zum Mund und nippen daran. Das himmlische Aroma lässt Sie ihre Augen schließen. Sie fühlen sich großartig. In diesem Moment gehört die Welt ihnen. Sie sind die Welt.«
Mohnfeld machte eine Pause. Die Fliege am Fenster summte.
»Halten Sie dieses Gefühl noch für einen Moment. Ein paar Atemzüge. Und nun – lassen Sie los. Sie fühlen sich entspannt und ausgeruht. Ganz allmählich kehren sie zurück. Ich werde jetzt von 5 runterzählen und dann werden Sie ihre Augen wieder öffnen. 5, Sie fühlen sich ausgezeichnet. 4, es geht ihnen sehr gut. 3, eine große Kraft durchströmt sie. 2, das Jetzt ist ihr Freund. 1, Sie öffnen langsam ihre Augen.«
Noah öffnete. Ihre Blicke trafen sich. Zwei gute Minuten tanzten durch den Raum.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Gut.«
Mohnfeld nickte und stand auf. Er nahm Noahs Tasse und ging an die Kaffeemaschine. Drückte Knöpfe und der Kaffee lief. Er schaute zu Noah rüber, der still in seinem Sessel saß. Dann schnappte er sich den Kaffee und kehrte zu Noah zurück.
»Bitte sehr, ihr Kaffee.«
»Danke schön.« Noah nahm die Tasse und Mohnfeld setzte sich wieder.
»Wie innen so außen.«, sagte Noah und starrte auf den Kaffee.
»Ja, so könnte man das sagen. Diese Technik nennt sich Manifestieren. Und ich vermute, dass Sie bestimmt darüber gelesen haben.« Noah nickte.
»Gut. Walt Disney hat gesagt, wenn du es träumen kannst, kannst du es auch tun.«
»Ich weiß.«, sagte Noah. »Aber ich schätze mal, die Wahrscheinlichkeit, dass ich den Kaffee auch ohne dieses ganze Brimborium bekommen hätte, liegt bei nahezu 100%. Richtig?«
»Vermutlich.«, sagte Mohnfeld und lächelte.
»Manifestierter Kaffee.«, sagte Noah, prostete Mohnfeld zu und nahm einen Schluck.
»Das war nur ein Beispiel. Eine kleine Demonstration, wenn Sie so wollen.«
»Wie innen, so außen. Glauben Sie, dass da was dran ist?«
»Ich weiß nicht. Was denken Sie?«
Noah sah in den Kaffee. Sein Blick fror ein. Die Gedanken standen still. In den Ohren rauschte das Blut. Nichts ergab einen Sinn.
»Hm, wenn ich mich innerlich in einen Vogel verwandle, bleibe ich doch ein Mensch.«, sagte er leise.
»Das ist sehr wahrscheinlich. Aber warum sollten Sie sich in einen Vogel verwandeln? Vielleicht wäre es für’s Erste sinnvoller, sich in die beste Version ihrer selbst zu verwandeln? Oder zumindest in die Version, die Sie gerne wären.«
»Hm, und sie meinen, das geht so einfach?«
Mohnfeld drückte seinen Rücken tief in das Leder. »Wie schon gesagt, an der Oberfläche ist das Ego nicht so leicht auszutricksen. Stellen Sie sich das Ego wie ein Puzzle vor. In den ersten Jahren werden die einzelnen Teile von anderen zusammengesetzt. Eltern, Verwandte, Lehrer, die Gesellschaft usw. Glaubenssätze entstehen. Ab einem gewissen Punkt kommt dann so etwas wie eigenständiges Denken dazu. Aber da die Konditionierungen sehr tief gehen, begnügt sich dieses Denken oft damit, die erworbenen Glaubenssätze zu bestätigen. Bestenfalls werden sie in Frage gestellt. Und dennoch ist das Bild irgendwann fertig. Das letzte Teilchen ist eingesetzt. Das Ego ist vollendet. Puzzle fertig. Und der Anteil, den Sie selbst an der Fertigstellung dieses Bildes haben, ist relativ klein. Und doch leben Sie damit. Der Rahmen ist vorgegeben und das Ego sorgt dafür, dass dieses Bild so bleibt, wie es ist. Warum sollte man ein perfektes Kunstwerk auch verändern?«
»Ja, warum sollte man das?«
»Nun, wenn man mit seinem Leben zufrieden ist, gibt es in der Tat wenige Gründe dafür. Aber Ihre Frage ist rein rhetorisch. Und das wissen Sie auch. Sie wären nicht hier, wenn alles bestens laufen würde. Richtig?«
Noah sah ihn an. Nippte am Kaffee.
»Hm, …«, grummelte er, ohne es zu merken. »Ich dachte immer, ihr Psychologen seht das Ego anders.«
»Ja, vielleicht, aber darum geht es jetzt nicht. Also gut, was macht man nun mit so einem fertigen Puzzle? Wie geht man damit um?«
»Man zerstört es.«
»T’ja, das wäre vermutlich der Königsweg. Aber den schaffen nur die wenigsten.«
»Ja, Heilige und Verrückte.«
»Also, das Große und Ganze werden wir nicht so einfach verändern können. Aber im Kleinen haben wir viele Möglichkeiten. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Wie wäre es also, wenn man das ein oder andere Teilchen herausnimmt und es durch ein anderes ersetzt?«
Noah schlug ein Bein über das andere. Dachte nach.
»Dieser ganze Egoquatsch führt doch zu nichts.«
»Na ja, wenn ihr Ego ihnen das nächste Mal etwas von Selbstmord erzählt, dann erklären Sie ihm einfach, dass Sie das alles für Quatsch halten. Das könnte helfen.«
»Ja genau. Und es wird sich köstlich dabei amüsieren.«
»Ich meine es ernst. Das ist besser, als Sie glauben. Einen Gedanken zu bekämpfen oder ihn zu verdrängen bringt nicht viel. Aber wenn man ihn bewusst wahrnimmt, kann man mit ihm arbeiten. Sie sind Physiker. Denken Sie an das Doppelspaltexperiment. Da beeinflusst die Beobachtung das Ergebnis.«
Noah schwieg. In seinem Kopf flackerten tausend Bilder. Aber kein Wort.
»Typische Gedanken aus dem Ego sind z.B.: Ich kann das nicht. Das wirst du nie schaffen. Dafür bist du nicht gut genug, et cetera, et cetera. Aber unabhängig davon, wo diese Gedanken herkommen, lassen sie sich analysieren. Und es fällt auf, dass die meisten dieser Gedanken lediglich Behauptungen sind. Und behaupten kann man bekanntlich alles, ohne, dass es auch nur ansatzweise einer Wahrheit entspricht. Denken Sie an Ford. Und was Sie dabei nie vergessen sollten, ist, dass Sie im Grunde der König in ihrem Hause sind. Das Ego ist letztendlich nicht mehr, als eine Art Hofnarr. Und Sie haben vermutlich recht, wenn Sie sagen, dass sich dieses Ego köstlich amüsiert. Auf der anderen Seite hat ein Hofnarr aber auch die Aufgabe, auf Missstände aufmerksam zu machen. Und dafür sollte man ihn nicht verdammen. Man sollte ihm danken. Aber ihm dann ganz klar zu verstehen geben, dass es falschliegt und Sie sich für das Gegenteil entscheiden. Und genau diesem Gegenteil schenken Sie dann ihre Aufmerksamkeit. Wie schon gesagt, Energie folgt der Aufmerksamkeit. Und bestenfalls lässt sich so, mit zahlreicher Wiederholung, das ein oder andere Puzzleteil ersetzen, indem Sie das Gegenteil einfach beweisen.«
»Oder bei dem Beweis scheitere.«
»1:0 für den Hofnarren.«, sagte Mohnfeld und zog die Augenbrauen hoch.
»Das ist doch alles Blödsinn.«
»2:0.«
Noah leerte seinen Kaffee.
»Möchten Sie noch eine Tasse?«
»Nein, danke.«
Sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber.
»Sehen Sie die Fliege da am Fenster?«
Noah blickte in die Richtung und nickte.
»Sie tanzt auf dieser unsichtbaren Wand. Versteht nicht, warum die Welt da draußen für sie nicht erreichbar ist. Sie kann sie doch sehen. Immer und immer wieder kracht sie dagegen. Wird zurück geworfen. Und es gibt scheinbar kein Entkommen. Arme kleine Fliege.«
»Arme kleine Fliege.«
»Was sie aber nicht weiß, ist, dass es doch einen Ausweg gibt. Nur sieht sie ihn nicht. Aber er ist da. Und es wäre ein Leichtes, ihn zu benutzen. Das Fenster steht auf kipp. Sie müsste einfach ein paar Zentimeter auf den Rahmen krabbeln, dem Weg folgen und draußen wäre sie. Im Grunde kinderleicht. Meinen Sie nicht auch?«
Noah betrachtete die Fliege.
»Hm …«
»Wissen Sie, ich glaube, wir Menschen sind in vielen Bereichen unseres Lebens wie diese Fliege. Und nur, weil wir keinen Ausgang sehen, heißt das nicht automatisch, dass keiner da ist.«
»Das klingt ja gut und schön. Was aber wäre, wenn das Fenster geschlossen ist?«
»Ist es das?«
Noah starrte eine Weile ins Leere.
»In meiner Welt schon.«
»3:0. Spiel, Satz und Sieg Hofnarr.«
Sie sahen sich an.
»Ich schätze, Sie haben das Prinzip dieses Spiels verstanden?«
»Spiel? Es ist nur ein Spiel?«
»Denken Sie an Shakespeare. Alles ist Bühne.«
Mohnfeld stand auf. Er ging zum Fenster. Öffnete es weit.
»Ich habe den Ausgang etwas vergrößert.«, sagte er und setzte sich wieder.
»Ja genau. Wenn eine Tür zugeht, öffnet der liebe Gott ein Fenster.«, sagte Noah und schickte ein verächtliches »Hmm…« hinterher.
»Das klingt ja besser als erwartet. Finden Sie nicht?«
»Wenn Sie ein Priester wären, vielleicht.«
»Nun, den lieben Gott haben Sie ins Spiel gebracht. Richtig?«
Noah schwieg.
»Ich möchte noch einmal auf den Steppenwolf zurückkommen. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Harry Haller sich zu seinem 50. Geburtstag den Selbstmord als einen möglichen Notausgang erlaubt. Haben Sie eine ähnliche Vereinbarung getroffen?«
»Nein.«, sagte Noah.
»Das kam sehr spontan.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Was denken Sie?«
»Gut?«
»1:0 Noah C..«
Und ohne, dass er es wollte, mogelte sich ein Grinsen in Noahs Gesicht.
»OK.«
»Unsere Zeit ist um. Ich hoffe, ich konnte ihnen ein paar Denkanstöße geben?«
Noah nickte. Sie standen auf und Mohnfeld reichte ihm die Hand.
»Neues Spiel, neues Glück. Wenn Sie mir diese alte Floskel erlauben. Wir sehen uns nächste Woche.«
»Bis nächste Woche.«

 

© Ulrich P. Hinz

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