Kapitel 18: Allein im Dunkeln mit Schlange und Co.

(Allein im Dunkeln mit Schlange und Co.)
Das Fenster stand weit offen. Noah saß in seinem Sofa. Die Zeit, wenn das Licht sich im Himmel auflöst, nur ein paar letzte Flecken die Welt von der Nacht trennen, erweckte ein Gefühl in ihm, das er gut kannte. Eine Mischung aus Angst und Hoffnung. Das Zimmer lag im Dunkeln. Er holte einmal tief Luft. Ließ den Atem langsam wieder raus. Bilder tauchten auf. Der lange Gang im Keller, den er als Kind so gefürchtet hatte. Obwohl er damals schon ahnte, dass es im Grunde nichts gab, vor dem man sich fürchten musste. Selbst wenn man niemals ganz sicher sein konnte. Das Hineinsteigern in eine künstliche Angst war einer der ersten Rauschzustände, die er kennen gelernt hatte. Onkel Louis sagte immer: »Die Angst ist der Zuhälter der Hoffnung.« Und auch wenn Noah damals nicht wusste, was ein Zuhälter ist, blieb das hängen.
Die Couch hatte ihn fest im Griff. Ein Versuch, sich zu erheben, musste scheitern. In seinem Magen grummelte es. Wie ein Gewitter, das noch weit entfernt ist. 21, 22, usw.
Nina tauchte auf. Er sah sie in der Küche beim Saubermachen. Mit einem Schwamm wischte sie über die Theke, nahm ein Trockentuch und polierte. Dann schaute sie ihn an und lächelte.
»Noah, …«
Er drückte das Bild weg. Wie mit einer Fernbedienung knipste er es aus. In seinen Augen brannte es. Aber diese Bilder kamen nicht aus den Augen. Die Nacht hatte die Schlacht gewonnen. Ein Königreich auf Zeit. Dachte er, als es an der Tür klopfte. Er rührte sich nicht. Blieb still sitzen. Im Dunkeln. Klopfen hatte es hier noch nie gegeben. Es sei denn, Judy hatte es besonders eilig. Dann donnerte sie auch schon mal an die Tür. Aber nur, um die Dringlichkeit deutlicher zu machen, als die Klingel das tat.
Noah lauschte in die Dunkelheit. Vielleicht hatte er sich geirrt. Er drehte sich um. Sah auf die Tür. Im Spion konnte man normalerweise das Licht aus dem Hausflur sehen. Nichts. Vorsichtig erhob er sich und schlich in Richtung Tür. Als er vor ihr stand linste er durch den Spion. Aber außer Dunkelheit war auf den ersten Blick nichts zu erkennen. Bis plötzlich ein Gesicht auftauchte. Das Gesicht eines Mannes mit Vollbart. Noahs Herz wummerte bis ins Gehirn. Seine Knie wurden weich. Er bekam kaum Luft. Atmen Noah, atmen. Doch so wie das Gesicht erschienen war, löste es sich wieder auf. Die Dunkelheit fraß es mit Haut und Bart. Noah klimperte ein paarmal mit den Augen. Nichts. Er knipste die Eingangslampe an und öffnete vorsichtig die Tür. Das Licht schwappte in den Hausflur. Er streckte den Kopf heraus, schob seinen Körper hinterher und drückte auf den Flurlichtschalter. Niemand. Er tänzelte zum Treppenaufgang und lauschte. Ging da nicht der Fahrstuhl? Da lief doch jemand die Treppe herunter. Er trippelte ein Stück auf das Geländer zu. Schaute runter.
Der Blick reichte bis nach unten. Nichts. Seine Hände lagen auf dem Geländer. Ein leichtes Zittern in den Beinen. Aber es blieb still. Bis auf die üblichen Geräusche, die ein Hausflur um diese Zeit so von sich gibt. Fernsehen und Co. Die Stimme von Pavarotti tanzte mit ACDC und Tatütata.
Plopp. Das Flurlicht war aus und Noah stand im Dunkeln. Seine Hände klammerten sich an das Geländer. Wie ein Anker, der sein Schiff sicher im Hafen hält. Ein köstlicher Duft zog in seine Nase. Direkt bis in den Magen, der wieder zu knurren anfing. Noah ließ los.
Er drehte sich um, machte einen Schritt und tastete sich an die Wand. Sie hielt ihn aufrecht. Nur die Dunkelheit lachte, spottete, schrie. Monster und Geister aus der Kindheit tobten durch sein Gehirn. Der lange Gang im Keller war wieder da. Er streckte seine gierigen Klauen von allen Seiten nach ihm aus. »Wir kriegen dich, kleiner Noah. Wir kriegen dich.«
Ein Leuchten zog ihn an. Seine Wohnungstür, die einen Spalt offen stand. »Geh ins Licht.« Und mit jedem Schritt wurde es heller. Die Monster verstummten. Der lange Gang kroch zurück. Aber die Angst blieb. Er schlich in seine Wohnung. Knipste alle Lichter an. Schaute sogar unter das Bett und in den Kleiderschrank. Doch bis auf das Spiegelbild im Fenster war er allein.
Die Uhr zeigte 22:22. Um 22:27 könnte die Welt untergehen. Dachte er. Und als sie es nicht tat, war er enttäuscht. Erleichterung lag bei 27,33%. Bis auf die letzten Stellen konnte er es nur schätzen. Das Licht verdrängte die Nacht. So wie alles, was ist, letztendlich nicht mehr ist, als verdrängtes Nichts. Hatte Kyros mal gesagt. Aber der war kein Physiker. Noah ließ sich auf das Bett fallen. Er atmete schwer. Fiel in einen unbestimmten Schlaf. Ein Weltuntergang auf Zeit. Himmel und Hölle zugleich.
Judy war nackt. Sie lag auf einer Wiese. Räkelte sich in der Sonne. Auf ihrem Bauch tanzte eine Schlange. Schwarz glänzend funkelten ihre Schuppen im Licht. Der Kopf schmiegte sich sanft von einer Seite auf die andere. Zärtlich stieß ihre Zunge durch die warme Brise wie ein Kuss. Judys Hände fuhren langsam über ihre Brüste den Bauch hinunter und legten sich vorsichtig um den Körper der Schlange. Sie atmete tief. Die Augen geschlossen. Um den Mund spielte das berühmteste Lächeln der Welt. Kurz vor dem Schrei in die Nacht.
Die Schlange senkte den Kopf. Glitt zwischen Judys Brüsten den Hals entlang. Richtete sich auf und spannte den Schild, auf dem zwei goldene Augen in der Sonne tanzten. Kurz vor dem tödlichen Schritt. Im Tango zu Hause. Mund an Mund umkreisten ihre Zungen sich. Der heiße Atem der Welt. Judy stöhnte. Ihre Hände wanderten zärtlich die Schuppen entlang bis hoch an den Schild. Legten sich liebevoll um den Kopf. Drückten ihn sanft am Busen vorbei. Ließen los. Breiteten sich auf der Wiese aus. Die Schlange züngelte. Folgte der Spur bis an das Portal. Judy spreizte die Beine. Schrie in die Sonne. Zuckte und zitterte. Und gezogen vom Duft ihrer Säfte drang der züngelnde Kopf in sie ein. Kroch tiefer und tiefer. Judy bohrte ihre Finger ins Gras. Stöhnte um ihr Leben. Japste nach Luft, lachte. Spürte den Schlangenkörper sanft über ihren Bauch gleiten. Wie eine Ankerkette im freien Fall. Dem Grunde folgend. Zog das Ende der Schlange am Nabel vorbei. Lief langsam über die Scham und versank in der Tiefe.
Ein Donner krachte im Himmel. Breitete sich knurrend aus. Dunkle Wolken folgten ihm blind. Und Judy schrie. Sie hob ihre Arme. Griff in die Nacht. Der Blitz schlug ein. Und gierig fraßen die Flammen tanzend einen Sarg, in dem Nina lag. Das Kind im Schoß. Ein Lächeln im Blick. Für einen kurzen Moment.

Noah riss die Augen auf. Das Licht brannte auf der Netzhaut. Sein Atem flatterte wie eine Fahne im Wind. Behutsam zog er sich hoch. Die Uhr zeigte 4:02. Er stellte die Füße auf den Boden. Vergrub das Gesicht in den Händen. Die Bilder hallten noch nach. Blitzen immer wieder auf. Wie eine defekte Neonröhre. Er holte einmal tief Luft und drückte sich in die Höhe. Der aufrechte Gang setze sich durch. Das Fenster im Wohnzimmer stand immer noch offen. Die Luft war frisch und klar. Er schaute kurz auf die dunkle Wiese. Dachte an das Igelgrab. Der Blick in die Sterne erdete ihn. Man hieß den verlorenen Sohn willkommen. Aus einiger Entfernung rief ein Vogel in die Nacht. Noah stellte das Fenster auf kipp. Er nahm das Handy vom Tisch, knipste die Lichter aus und schlurfte zurück ins Schlafzimmer.
Die Uhr zeigte 4:22. Freitag 4:23. Und etwas klingelte in Noah. Da war noch was. »Super. Dann trage ich Sie für Freitag 11 Uhr ein.« Ludwig Mohnfeld. Psychologe. Den hatte er vergessen. Das große Spiel mit der Seele. Er nahm den Wecker und stellte ihn auf 9:30 Uhr. Dann zog er sich aus. Löschte das Licht und schlüpfte unter die Decke. Die Gedanken kreisten im Tangoschritt. Aber gegen 4:37 Uhr war alles vorbei.

 

© Ulrich P. Hinz

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. hedwig-anna netta

    neulich habe ich mal die datenschutzbestimmungen gelesen-nix kapiert-aber einen anständigen lachanfall gekriegt……
    das brauche ich nun wirklich nicht in meinem leben(eine fünf oder sechs,) H.Kappelhoff—-Setzen!!!!!)

    1. Uli

      Ja, das verlangt ein Gesetz so. Es ist mehr als lächerlich aber wenn man es nicht auf der HP hat, kann man „kostenpflichtig“ abgemahnt werden. Die DSGVO will es gründlich. Ein Ungeheuer, dass stets hungrig ist, wenn es in den Kram passt. Es gibt natürlich Ausnahmen. Der Impfstatus beispielsweise. Und vieles mehr. Aber lassen wir das, sonst krieg ich das Kotzen. 😉 Hoffe, es geht ihnen besser.

Schreibe einen Kommentar