Kapitel 17: Nackte Tatsachen und französischer Wein

(Nackte Tatsachen und französischer Wein)
Noah stand vor Judys Tür und klingelte. Er wollte gerade gehen, als die Tür aufging. Judy grinste.
»Ah, der verlorene Sohn.«, sagte sie und zog ihn herein.
Ihre Wohnung war eine Mischung aus Ikea und Disney-Land.
»Ich mach gerade Tee. Willst du einen?«
»Was denn für einen?«
»Wildkirsche.«
»Ja, nehm ich.«.
»Gute Entscheidung.«
»Was macht deine Popkornmaschine?«
»Sieht gut aus. Findest du nicht?«
»Ja, wie im Kino. Nur kleiner.«
Er schlurfte in Richtung Sofa. Davor lag ein Flokati. Und darauf stand ein Glastisch. Noah ging zum Fenster. Von dieser Seite des Hauses hatte man einen Blick auf die Straße und die Häuserreihe gegenüber. In den Fenstern gab es immer was zu sehen. Spielende Kinder. Streitende Pärchen. Der Typ eine Etage tiefer lief immer nackt durch die Wohnung. Gerade auch wieder. Er winkte Noah zu. Noah winkte zurück.
»Dein Nackter ist wieder unterwegs.«, lachte er.
»Ja, hab ihn neulich kennen gelernt. Das ist Barry. Ein Ami aus New York. Er ist Photograph. Soll ziemlich cooles Zeug machen.«
»Frag ihn doch mal wegen eures Gigs.«
»Hm, ich glaube, den können wir uns nicht leisten.«
»Na ja, du weißt, wie er nackt aussieht. Das ist doch ein guter Einstieg für eine geschäftliche Anfrage.«
Judy lachte.
»Du meinst, ich soll mit seinem Schwanz Geschäfte machen?«, fragte sie grinsend.
»Ach, ich weiß auch nicht. Aber was hast du schon zu verlieren?«
»Stimmt. Ich glaube, ich mach’s einfach.«
Sie kam mit dem Tee, stellte das Tablett auf dem Glastisch ab und setzte sich aufs Sofa. Dann verteilte sie die beiden Tassen und goss ein.
»Ist er noch da?«
»Im Moment sehe ich ihn nicht.«
Judy stand auf und trapste zum Fenster. Sie schob Noah zur Seite und öffnete es.
»Hey, Barry!«, rief sie aus voller Kehle.
»Du willst ihn jetzt fragen?«
»Na ja, wie du schon sagtest, er ist nackt. Und …«
Barry tauchte auf und schaute rüber. Dann öffnete er sein Fenster.
»Jo, Judy, was geht meine Süße?« Sein Akzent tanzte über die Straße, wie frisch vom Broadway.
»Wir haben Samstag einen Gig im Clock. Und ich wollte fragen, ob du Bock hast, vorbei zu schauen?«
»Jetzt Samstag?«
»Yep. 10 Uhr. Eintritt frei. Und wenn du deine Kamera mitbringst, sind die Getränke auch frei. Wie klingt das?«
Barry lachte.
»Ach, ihr Musiker seid so niedlich. Aber ich fürchte, Samstag geht nicht. Und wenn doch, dann erst später.«
»Wäre auf jeden Fall total cool.«
»OK, we‘ll see.«
»Super. Danke dir.« Judy winkte und stellte das Fenster auf kipp.
»So, und jetzt zum Tee.«, sagte sie und klopfte Noah auf den Hintern.
»Glaubst du, er kommt?«
»Weiß nicht. Aber wie du schon sagst, wir haben nichts zu verlieren. Und Ernies Bruder wird auch Fotos machen. Also was soll’s?«
Sie packte zwei Zuckerwürfel in ihren Tee und rührte langsam vor sich hin. Noah nahm seine Tasse und nippte.
»Hm, gut.«
»Sag mal, was ist deine erste Erinnerung?«
Noah sah sie an.
»Was?«
»Ja, ich meine, was ist das erste, woran du dich erinnern kannst?«
Er setzte die Tasse ab und überlegte.
»Keine Ahnung. Hab ich noch nie drüber nachgedacht. Und du?«
»Ich dachte immer, ich hätte eine gehabt. Aber meine Mutter sagte, dass die nie passiert ist.«
»Und was war’s?«
»Also ich liege allein im Kinderwagen. Irgendwo draußen. Und da kommt ein riesiger Rabe angeflogen und setzt sich auf die Stange, mit der man den Wagen schiebt. Und er schaut mich einfach nur an.«
»Hattest du Angst?«
»Ich glaube nicht. Aber laut meiner Mutter ist das nie passiert.«
»Woher will sie das wissen?«
»Sie sagt, sie hätte mich nie länger alleine draußen stehen lassen.«
»Na ja, nicht mal für fünf Minuten? Das wäre vermutlich die erste Mutter der Welt, die das geschafft hätte.«
»Keine Ahnung. Aber es ist doch schon irre. Da glaubt man, eine Erinnerung zu haben, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie falsch ist, liegt bei fast 100%. Was, wenn das mit den meisten Erinnerungen so ist. Oder sogar mit allen? Dass sie sich mit der Zeit verfärben. Also Dichtung und Wahrheit sich vermischen.«
»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Noah nachdenklich.
»Na ja, ein großer Teil von dem, was wir sind, sind wir durch unsere Erinnerungen. Oder nicht?«
»So weit würde ich nicht gehen.«
»Was wärst du jetzt für ein Mensch, wenn du dich nicht mehr an Nina erinnern könntest?«
Noah sah sie an. Dachte nach.
»Das ist unmöglich. Allein der Name reicht aus, und ich sehe sie so deutlich vor mir, wie dich jetzt gerade.«
»Ich sagte, wenn.«
»Woher soll ich das wissen? Ohne Nina wäre mein Leben anders verlaufen.«
»Nehmen wir an, dein Leben ist dasselbe. Nur die Erinnerung an sie würde von jetzt auf gleich fehlen.«
Noah nahm einen Schluck Tee. Stellte die Tasse wieder zurück.
»Dann wäre ich vermutlich ein Mensch, der eine große Traurigkeit in sich trägt. Ohne zu wissen, warum.«
»OK, lassen wir das.«
»Wie kommst du denn jetzt eigentlich auf so was?«
Judy nahm ihre Teetasse in beide Hände. Pustete ein paar Wellen.
»Nicht so wichtig.«
»Komm schon. Was ist los? Du hast mir doch vorhin etwas von einer Überraschung auf die Mailbox gequatscht.«
Judy sah ihn an.
»Ich hab ihn gefunden.«, sagte sie leise.
»Wen?«
»Meinen Vater.«
Noah zögerte. Rieb seine Stirn.
»Ich dachte, du wolltest nicht nach ihm suchen.«
»Stimmt. Aber insgeheim suche ich ihn wohl schon immer. Und jetzt ist es einfach passiert.«
»Einfach passiert?«
»Egal.«
»Hm. Und? Ist er hier in der Stadt?«
»Nein. Nicht einmal im Land.«
Noah sah sie an und hatte das Gefühl, sie zum ersten Mal zu sehen. Wie ein abgeschminkter Clown saß sie neben ihm und atmete in ihre Tasse.
»Er ist in Paris.«
»Paris. Und da willst du jetzt hin?«
Sie stellte ihre Tasse ab.
»Ich weiß nicht. Ich hab keine einzige Erinnerung an ihn. Nicht die geringste. Und vielleicht ist das auch gut so.«
»Vielleicht?«
»Andererseits ist er ein großer Teil von mir, den ich nicht kenne. Der große Unbekannte meiner Seele. Au man, was für ein pathetischer Schmodder.«, sagte sie und lachte.
»Du weißt, ich liebe Pathos. Mach einen Song draus.«
»Gute Idee. Warum komm ich da nicht drauf?«
»Jetzt ist sie da. Und wo sie herkommt, ist egal.«
»Weißt du, vielleicht hab ich einfach nur Angst.«
»Und ich dachte immer, du hättest vor gar nichts Angst.«
»Hab ich auch nicht. Aber das hier ist anders. Hier geht es um meine Wurzeln. Meinen Ursprung. Die Quelle meiner Existenz. Die Seite in mir, von der ich so gut wie nichts weiß.«
»Na ja, deine Mutter wird dir doch bestimmt das ein oder andere über ihn erzählt haben. Oder?«
»Nicht wirklich viel. Sie kannten sich ja kaum. Aber das bisschen, was ich durch sie über ihn weiß, ist alles, was ich von ihm habe.«
»Du hast mir nie etwas über ihn erzählt. Nur dass er vor deiner Geburt weg ist.«
Judy stand auf. Begann, im Zimmer auf und ab zu laufen.
»Er ist Franzose. Kam aus Bordeaux. Kunststudent. Für ein Semester in Deutschland. Und sein größtes Kunstwerk aus diesem Semester steht vor dir.«, sagte sie und verbeugte sich tief.
»Es ist ein Meisterwerk, Madame.«, erwiderte Noah und applaudierte.
Judy lachte. Dann ging sie zum Kühlschrank, öffnete ihn und nahm eine angebrochene Flasche Wein heraus.
»Willst du ein Glas?«
»Warum nicht?«
Sie zupfte den Korken aus der Flasche und füllte zwei Gläser. Das eine reichte sie Noah und setzte sich wieder neben ihn.
»Danke. Ah, ein Roter. Wie passend.«
»Ein Französischer. Passender geht’s nicht.«, sagte sie und hob ihr Glas. »Auf die Erinnerung.«, rief sie.
»Auf die alten und die neuen.«, prostete Noah und sie stießen an. Kling.
»Hmm, trocken.«, sagte sie. »Vielleicht ist es wirklich Zeit, für ein paar neue Erinnerungen.«
»So wird es sein.«
Judy lachte.
»Ah, der Herr war wieder bei Colette.«
»Und wenn schon.«
»Alles gut. Ich hab sie auch schon einmal besucht. Ist nichts, wofür man sich schämen müßte. Nur, wenn man daran glaubt.«
Noah grinste.
»Vielleicht solltest du mal mit ihr darüber reden. Eine Wahrsagerin hat noch einen ganz anderen Blick auf die Dinge. Außerdem ist sie Französin und eine Frau. Und…«
»Findest du es nicht seltsam, dass ein Physiker wie du, ein Wissenschaftler, an so einen Hokuspokus glaubt? Während ich, die Musikerin, das für ziemlichen Schwachsinn halte.«
»Ich glaube ja nicht direkt daran. Es fühlt sich nur manchmal gut an.«
»Collette ist Wahrsagerin, keine Nutte.«, sagte Judy und grinste.
»Du weißt, wie ich das meine. Und wenn du sowieso schon bei ihr warst, also diesmal könnte es vielleicht wirklich sinnvoll sein. Zum einen hörst du noch eine andere Meinung. Zum anderen gibt es bekanntlich Dinge zwischen Himmel und Erde, und … na ja, war nur so eine Idee …?«
Judy sah in ihr Glas. Schnupperte in den Wein und nahm einen Schluck.
»OK, ich denk drüber nach.«
Noah stellte seinen Glas auf den Tisch.
»Wein auf Tee, das ist OK.«, sagte er. »Habt ihr heute noch Probe?«
»Ja, um acht.«
»Was haben wir jetzt?«
Judy sah auf ihre Uhr. »Gleich fünf.«
Sie nahm noch einen Schluck. Noahs Handy klingelte.
»Schon wieder unbekannte Nummer. Das hatte ich heute schon ein paarmal.«
»Gib mal her.«, sie nahm das Handy und drückte.
»Judy Garland. Schön, dass du anrufst. Wir können viel Spaß mit einander haben. Was hast du an?«
Noah grinste.
»Lass mich raten. Nichts.«, sagte er.
»Yep. Du hast immer noch diesen Klingelton?«
»Warum nicht? Du hast ja auch noch somewhere over the rainbow.«
»Schon gut. Wir sind, was wir sind.«
»Diese Anrufe gehen mir auf den Geist. Es wird keine Nummer übertragen und ich hab nicht die geringste Ahnung, wer das sein könnte. Und am anderen Ende bleibt es immer still.«
»Vielleicht ein heimlicher Fan von dir?«, sagte Judy und klimperte mit den Augen.
»Ja genau.«
»Hey, das wird schon wieder aufhören. Drück sie einfach weg. OK?«
»OK.«
»Zu Not schaust du im Netz, was man dagegen machen kann. Aber ich glaube, das hört von selbst wieder auf.«
»So wird es sein.«, sagte er, nahm das Weinglas und einen großen Schluck.
»Vorsicht Mr. Einstein. Sie sind das Trinken nicht gewöhnt.«
»Hast du eigentlich seine Adresse?«
»Von meinem Vater? Klar. Ich hab doch gesagt, dass ich ihn gefunden habe. Was wäre das wert ohne die Adresse?«
»Stimmt. Sorry, ich sollte wirklich nicht trinken.«
Judy begann zu gackern wie ein Huhn.
»Bok, bok, bok, bok. Der kleine Noah kann in der Spielzeugabteilung abgeholt werden. Bok.«
Noah exte das Glas und stellte es zurück auf den Tisch.
»Lass uns nach Paris fahren.«
Judy machte große Augen.
»Jetzt sofort?«
»Ja sicher.«
»Junge, du verträgst ja wirklich nichts.«
»Bok, Bok. Die kleine Judy kann in der Ich-Hab-Schiss-Abteilung abgeholt werden.«
»So einfach ist das nicht. Schon vergessen? Probe? Gig? Wichtig für mich?«
»Hm…«
»Noah, das ist echt lieb von dir. Und so ziemlich das Spontanste, was du je gebracht hast.«, sagte sie verwundert, »Aber dafür brauch ich Zeit. OK?«
Noah ließ seine Hand auf ihren Oberschenkel fallen.
»Ja, ich weiß.«
Sie nahm die Weinflasche.
»Willst du noch?«
Er schüttelte den Kopf.
»Besser nicht. Und du hast gleich noch Probe.«
»Stimmt.« Sie stellte die Flasche wieder zurück.
»Noch einen Tee?«
»Danke. Aber ich werde jetzt verschwinden.«
»Kriegst du das hin?«, sagte sie und grinste.
»Ein Affe würde das hinkriegen.«
»Also, du gehst jetzt geradeaus, da vorne durch die Tür und dann …«
»Ja, ja. Der kleine Noah kennt den Weg.«
Sie lachte. Er stand auf. Ein leichtes Kreiseln im Kopf ignorierte er. Als plötzlich einige Raumschiffe aus dem Star-Wars-Imperium an ihm vorbei schossen, kniff er die Augen zu. Aber die Wucht ihrer Druckwellen drückte ihn zurück in das Sofa.
»Möchte der Herr doch noch ein wenig bleiben?«, fragte Judy, beugte sich über sein Gesicht und legte ihre Hand auf seine Brust. Zwei Weinfahnen auf dem Weg, ein Atem zu werden.
»Judy, ich…«
»Schsch…«
»Somewhere over the rainbow.«, sang es aus Judys Handy.
»Na wunderbar.«, sagte sie und tätschelte Noahs Wangen.
Dann nahm sie das Telefon und schaute auf das Display.
»Ernie?«
Sie stand auf, nahm die Weinflasche und stellte sie auf die Küchenanrichte.
»OK…«
Noah klimperte ein paarmal mit den Augen. Der Tag hatte ihn wieder. Keine Raumschiffe mehr. Gehirn an Erde. Wir sind zurück. In seinen Ohren rauschte es leise. Sonst liefen alles Systeme wieder stabil. Er sah auf die Tür. Dann auf Judy.
»Also bis gleich.«, sagte sie und legte auf.
»Das war Ernie. Wir proben eine halbe Stunde früher.«
»So wird es sein.«, sagte Noah und grinste.
»Jungchen, Jungchen, ein Glas Wein lass lieber sein.«
»Alles gut. Ich verschwinde jetzt. Diesmal schaff ich’s.«
Er stand auf und sie umarmten sich.
»Viel Spaß bei der Probe.«
»Danke.«
»Und denk in Ruhe über alles nach.«
Sie nickte.
»Mach ich. Jetzt aber raus hier.«, sagte sie und gab ihm einen Abschiedsklaps auf den Hintern.

 

© Ulrich P. Hinz

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