Kapitel 14: Platon und ein Leichenzug

(Platon und ein Leichenzug)
Die Abendsonne stand an Noahs Fenster. Hell und kräftig. Dieses Bild, wenn ein Raum von der Abendsonne geflutet wird, liebte er. Das Sofa hielt ihn warm und weich. Als plötzlich etwas mit voller Wucht gegen sein Fenster knallte. Der Knall war so laut, dass sein Herz fast durch den Hals geschossen wäre. Und er wunderte sich, dass, egal was es auch gewesen war, es nicht durch die Scheibe gekracht war. Eine Taube, berechnete das Gehirn, als der erste Schreck sich aufgelöst hatte. Noah stand auf und öffnete das Fenster. Und tatsächlich, unten taumelte eine Taube benommen über die Wiese. Dann blieb sie liegen und rührte sich nicht mehr. Noah überlegte kurz. Er drehte sich um, ging in Richtung Wohnungstür, zog den Schlüssel aus dem Schloss und knallte die Tür hinter sich zu. Es fühlte sich an, als schwebte er die Treppen hinunter. Unten angekommen lief er links herum in Richtung Wiese hinter dem Haus. Seine Blicke wanderten über den Rasen. Aber die Taube war nirgends zu sehen. Er suchte die ganze Wiese ab, aber die Taube blieb verschwunden. Muss sich wohl wieder erholt haben, dachte er und schaute an der Hauswand nach oben zu seinem Fenster, das noch offen stand. Wie viele andere auch, schließlich war es August.
Noah ging zurück in Richtung Straße. In Gedanken noch ganz bei der Taube, als er in der Parkbucht vor dem Haus etwas entdeckte, das ihn irritierte. Zwischen zwei parkenden Autos lag ein dunkler Haufen. Vielleicht so groß wie ein kleiner Maulwurfshügel. Noah trat langsam näher heran. Es war ein Igel. Er lag direkt an der Bordeinkante. Der vordere Teil des Körpers war nur noch eine matschige Masse. Ein Kopf nicht mehr erkennbar. Den hinteren Teil hatte es nicht ganz so schlimm erwischt. Die braunen Stacheln mit den hellen Spitzen leuchteten traurig im Abendlicht. Ein schwarzes Bein hing noch unversehrt am Rumpf. Armer, kleiner Kerl, dachte Noah. »Bist du der Igel, den ich auf der Wiese gesehen habe?« Eben noch ein Igel. Jetzt schon ein breitgefahrenes Etwas. Einige Fliegen kreisten darum. Und ein seltsamer Geruch stieg in Noahs Nase. »Ruhe in Frieden mein Freund.«
Im ersten Stock ging ein Fenster auf.
»Hey Noah, mein Freund. Alles in Ordnung?«
Noah drehte sich um. Es war Kyros, der alte Grieche.
»Hey Kyros. Hier liegt ein Igel. Platt gefahren.«
»Oh, das ist schade. Igel sind nicht für den Straßenverkehr gemacht.«
»Wohl wahr.«, erwiderte Noah, »Er wäre besser auf den Wiesen geblieben.«
»Vielleicht hat er sich verlaufen. Das kommt vor.«, sagte Kyros.
»Ja, schon möglich.«
»Sollen wir ihn begraben?«, fragte Kyros und Noah stutzte.
»Wo? Hinterm Haus?«
»Ja, irgendwo auf der Wiese finden wir schon ein Plätzchen für ihn.«
»Aber ich habe keine Schaufel oder so was.«
»Hab ich im Keller. Warte, ich komm runter.«, sage Kyros und verschwand vom Fenster.
Noah schaute noch mal auf den Igel. Die Idee, ihn zu beerdigen, wäre ihm nie im Leben gekommen. Aber Kyros war da anders. Er war ein netter Kerl. Ein weiser alter Grieche, wie Judy immer sagte. Und sie hatte recht. Die Tatsache, dass er, sobald es dunkel wurde, in Frauenkleidern rumrannte, störte niemanden. Zumindest niemanden, der ihn kannte. War wohl auch keine sexuelle Geschichte. Für Kyros war die Nacht einfach weiblich. Und so fühlte er sich dann auch. Und diesen Gefühlen ging er einfach nach. Seine Frau war von ein paar Jahren gestorben. Und damals fing das wohl an. So vermutete Judy. Genau wusste sie es aber nicht. Noah interessierte es viel mehr, dass Kyros sich sehr gut mit Platon auskannte. Kyros selbst hatte mal gesagt, dass die Sache mit den Frauenkleidern rein platonisch sei. Und wer könnte so etwas besser beurteilen, als ein weiser alter Grieche, der sich gut bei Platon auskennt. Und damit war die Sache für Noah erledigt.
Die Haustür ging auf. Kyros hatte eine Schaufel und einen Spaten in den Händen.
»Noah bitte hilf mir mal.«, sagte er und reichte Noah die Schaufel.
»Ich hoffe, wir kriegen ihn da weg. Er ist von zwei Autos eingekeilt.«, sagte Noah und nahm die Schaufel.
»Das wird schon. Hoffentlich klebt er nicht zu sehr am Boden fest.«, sagte Kyros und betrachtete den Igel in aller Ruhe, »Armer kleiner Kerl. Wobei, so klein war er wohl gar nicht.«
Noah lief um das eine Auto rum. Der Abstand zwischen den beiden Wagen war nicht riesig, reichte aber.
»Jetzt versuch, ob du ihn in einem Stück auf die Schaufel bekommst.«, sagte Kyros, »Du musst richtig unter ihn kommen. Wenn er nicht zu sehr mit der Straße verklebt ist, sollte es klappen.«
Noah probierte es. Es stocherte ein paarmal am Rand des Igels, bis der sich schließlich vom Boden löste. Das Geräusch der Schaufel auf dem Asphalt verpasste Noah eine Gänsehaut. Aber dann lag der Igel auf der Schaufel. Jedenfalls das meiste von ihm.
»So ist es gut.«, sagte Kyros, »Jetzt bring in rüber.«
Noah quetschte sich an den Autos vorbei. Die Schaufel in beiden Händen. Der tote Igel voran. Der Holzstiel der Schaufel fühlte sich seltsam an und Noahs Hände begannen, leicht zu zittern.
»Gut, und jetzt zur Wiese. Pass auf, dass er nicht runterfällt.«, sagte Kyros und sie gingen langsam los. Noah setzte einen Fuß vor den anderen. Den Igel im Blick. Und obwohl die Schaufel nicht schwer war, spürte er seinen Rücken.
Eine ältere Frau kreuzte ihren Weg. Sie blieb stehen und schüttelte den Kopf.
»Ein Trauerzug für einen toten Freund.«, sagte Kyros und zeigte auf den Igel.
»Wie traurig.«, sagte sie, »Ist er überfahren worden?«
»Ja, leider.«, sagte Kyros, »Wir beerdigen ihn jetzt.«
»Das ist gut.«, sagte sie und ging weiter.
Als sie die Wiese erreicht hatten, setzte Noah die Schaufel ab.
»Wo wäre denn ein guter Platz, Kyros?«
»Vielleicht da vorne am Zaun. Bei dem Rhododendron?«
»OK.«, sagte Noah und nahm die Schaufel wieder hoch.
Sie gingen über die Wiese in Richtung Zaun, an dem viele Pflanzen entlang wuchsen.
»So, hier ist es gut.«, sagte Kyros, »Leg ihn da hin.«
Noah legte die Schaufel vorsichtig in das Gras.
»Mit dem Spaten kannst du eine schönes Loch machen.«, sagte Kyros und reichte ihn Noah.
»OK.«, sagte Noah und stach in das Gras.
»Der erste Stich ist immer der schwerste.«, sagte Kyros und nickte den Kopf.
»Der Boden ist ziemlich locker. Ich komm ganz gut durch. Hätte nicht gedacht, dass ich heute noch ein Grab ausheben muß.«
»Wer denkt schon an so was? Aber du siehtst, der Tod geht seine eigenen Wege.«, sagte Kyros und schaute auf den Igel.
»Ich glaub, ich hab ihn hier schon einmal gesehen.«, sagte Noah.
»Wen, den Igel?«
»Ja, er ist gestern über die Wiese gewatschelt. Wenn er es war.«
»Gut möglich. So viele Igel gibt es hier nicht. Glaube ich wenigstens.«
»Stimmt. Ist auch der erste, den ich hier gesehen habe. Meinst du, das ist jetzt tief genug?«
»Ich denke schon. Und es sieht sehr gemütlich aus.«
Noah drückte Kyros den Spaten in die Hand. Dann nahm er die Schaufel und schüttelte den Igel sanft in das Loch.
»Passt perfekt.«
»Ja. Ein gutes Grab.«, erwiderte Kyros, »Willst du noch was sagen?«
»Was sagen? Was soll ich denn sagen? Ich glaub, ich bin nicht gut in so was. Und außerdem bist du der Philosoph.«
»Gut. Also, mein kleiner Freund. Es ist schön, dass du auf dieser Welt warst, die dich nie vergessen wird. Dein Geist ist nun weiter gezogen. Aber wir werden dich in unseren Herzen behalten. Und diesen Abend werden wir in Erinnerung tragen, bis uns einst selbst die Stunde schlägt. Ruhe in Frieden, kleiner Freund. Ruhe in Frieden. Amen.«
»Amen.«
Sie schauten beide auf den Igel. Dann nickte Kyros wieder mit dem Kopf.
»OK.«
Noah nahm die Schaufel und füllte die Erde in das Grab. Zum Schluss legte er noch den Rasen auf und klopfte alles gut fest.
»So, das war’s.«, sagte er.
»Ja, das war’s.«
Das restliche Sonnenlicht wurde schwächer. Die blaue Stunde machte sich bereit. Kyros und Noah verließen die Wiese und die Welt war um ein Grab reicher.

 

© Ulrich P. Hinz

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