Kapitel 10: Realitäten, Berufsberatung und Schatztruhen

(Realitäten, Berufsberatung und Schatztruhen)
Gegen 9:33 Uhr wurde Noah wach. Die Nacht steckte ihm in den Knochen und um sein Gehirn lag eine dicke Nebelbank. Bunte Bilder, die ihm seltsam vertraut vorkamen, blitzten immer wieder kurz auf. Traumlandschaft, die sich mit den Nichttraumlandschaften vermischten, machten ihm schon lange keine Angst mehr. Und die Frage, was das Gegenteil von Traum ist, stellte er sich auch nicht mehr. Im Laufe des Tages zog das Bewusstsein dann mehr oder weniger klare Grenzen. Und bis auf ein paar stille Ahnungen, die sich nie ganz vermeiden ließen, setzte sich der Tag schließlich durch.
Er ging ins Badezimmer. Hockte sich aufs Klo und ließ es laufen. Die Augen waren noch müde. Klare Sicht dauerte in letzter Zeit immer länger. Auf der Kommode neben dem Klo lag allerhand Zeug. Seine Blicke hüpften darüber. Verwaschen und leer. Bis seine Augen plötzlich am Zauberwürfel hängenblieben und ihn scharf stellten. Und irgendetwas schien sich in Noah zu regen. Aber da es für den Zauberwürfel einfach noch viel zu früh war, zog er die Hose hoch, drückte die Spülung und wusch sich seine Hände. Das kalte Wasser brauchte immer etwas länger, um wirklich kalt zu werden. Manchmal gute 2 Minuten. Noah sah in den Spiegel. Ein Dreitagebart, der ungefähr eine Woche alt war. Er grinste und verließ das Bad. Die Kaffeemaschine war immer das erste Ziel des Tages. Zweites Ziel war der Laptop. Er riss das linke Fenster weit auf und der Kaffeeduft begann, sich im Raum zu verteilen.
Er zog die Tasse unter der Maschine weg und setzte sich an den Tisch. Der erste Schluck ging runter wie Öl. Heißes Öl aber genial. Er schnappte sich sein Handy und wischte ein paarmal über das Display. Drückte dann schließlich auf Horoskop.
Fische: Sie sind in Bestform. Die Sterne meinen es heute sehr gut mit Ihnen. Selbst Dinge, die Sie schon lange vor sich herschieben, schaffen Sie mühelos. Singles sollten sich auf die Piste begeben. Ihr Traumpartner könnte Ihnen heute über den Weg laufen. Auf der Arbeit können Sie punkten, wenn Sie Ruhe bewahren. Finanziell sind sie gut aufgestellt und könnten durchaus mal etwas riskieren. Doch hüten Sie sich von falschen Freunden.
Noah grinste. Na bitte, geht doch. Und obwohl er natürlich nicht wirklich daran glaubte, gab es ihm ein gutes Gefühl. Auch wenn diese Kinder-Horoskope sich nicht mit denen von Colette messen lassen konnten. Genauso wie eine Cola light oder Zero einfach nicht dasselbe ist, wie eine echte Coke. Aber für den Moment reichte es. Noah legte das Handy zur Seite. Er öffnete das Schreibprogramm seines Laptops und schaute auf den blinkenden Cursor. Ein Schluck Kaffee und Überschrift.
Wie innen so außen. (Gedanken, Spekulationen und Vermutungen.) Zweimal Return.
Der Cursor stockte. Noahs Magen grummelte. Im Horoskop las sich das so leicht. Er schob den Laptop zur Seite. Als er das Handy in die Hosentasche stecken wollte, fiel im ein, dass er noch nicht angezogen war. Die Zähne waren auch noch nicht geputzt. Mit der Zahl von unerledigten Dingen in seiner Welt, stand Noah schon immer auf Kriegsfuß. Ein Berufsberater hatte ihm einmal gesagt:
»Noah, du weißt ganz genau, was du alles nicht willst. Und du weißt auch genauso genau, warum du das alles nicht willst. Und deine Begründungen sind ja auch wirklich gut und sehr ausführlich. Aber wenn ich dich dann andererseits frage, was du denn nun eigentlich willst, kommt leider gar nichts. Noah, so funktioniert das nicht.«
Und vielleicht hatte der Typ wirklich recht gehabt. Allerdings hatte der ihm auch nur gesagt, dass es so nicht funktioniert. Die große Antwort darauf, wie es denn nun funktioniert, blieb er ihm schuldig.
Noah ging sich die Zähne putzen. Dann sprang er in seine Jeans, ein schwarzes T-Shirt und die Nikes, schnappte sich seine Schlüssel und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus spielte schon wieder die Sonne. Ungefähr auf Höhe des 2. Stocks kam ihm eine ziemlich heiße Lady entgegen, die er hier noch nie gesehen hatte. Sie grüßte lächelnd, als sie sich an einander vorbeidrückten. Noah dachte an das Horoskop. Sexy. Dann an den Berufsberater. Ja, eindeutig zu jung. Es war ein Fluch. Vielleicht wusste Colette, wie man Flüche aufheben kann. Der Seelenklempner würde es bestimmt anders nennen, aber vielleicht hatte sogar der eine Idee.
Unten angekommen ging er nacht rechts. Ein paar Schritte weiter war die kleine Bäckerei. Die Tür stand offen und Noah trat ein. Beim Überschreiten der Türschwelle fühlte er sich irgendwie seltsam. So als wäre er gerade durch eine unsichtbare Wand gelaufen. Sein Gehirn fand in Bezug auf unsichtbare Wände keine Einträge und so ignorierte er es. Die gläserne Schatztruhe der Theke war gut gefüllt. Kuchen, Teilchen, Croissants, belegte Brötchen, Sandwiches, das volle Programm. Eine Kundin war noch vor ihm, als sein Blick zu verschwimmen begann. Alles wurde langsam. Er hob den Arm wie schwerelos an seine Stirn und sah Luftblasen nach oben steigen. Die Stimme der Verkäuferin waberte dumpf durch den Raum, wie in Zeitlupe. Noah musste sich stark konzentrieren, um nicht unter die Decke zu schweben. Eine Bäckerei auf dem Grund des Meeres, dachte er. Nein, ein Aquarium. Ein Aquarium in der Größe einer Bäckerei. Der Begriff klopfte an jede Einzelne seiner Gehirnzellen. Und Colettes Stimme tanzte dazu. Du bist ein Goldfisch, kleiner Noah. Das Leben unter Wasser hatte er sich anders vorgestellt. Das alte Schwimmbad seiner Kindheit. Dieses Gefühl, wenn man kurz vor dem Auftauchen die Oberfläche erkennt. Man sieht das Sonnenlicht. Und als Kind weiß man, da liegt die Grenze zu einer anderen Welt. Taucht man auf oder ein? Fragen, die sich Kinder oft stellen. Aber in einem Schwimmbad war er schon lange nicht mehr. Tauch auf kleiner Noah.
»Was darf es sein?«
Unter Wasser klingen Stimmen lustig. Man versteht kaum etwas. Und trotzdem weiß man, dass sie mit einem sprechen. Bei Tauben ist das ähnlich. Wenn man sie anschaut, merken die das sofort. Es ist, als würden sie die Blicke spüren. Noah hatte die Tauben vor seinem Fenster studiert. Und die Ergebnisse waren mehr als überzeugend.
»Entschuldigung?«
»Ups, Pardon, ich war in Gedanken.«, sagte Noah und versuchte ein Lächeln.
»Kein Problem, was darf es denn sein?«
»Ja, ich hätte gerne ein Tomaten-Mozarella-Sandwich und ein Pizzabrötchen.«
»Zum Hieressen?«
»Zum Mitnehmen, bitte.«
»In getrennte Tüten oder kann ich das in eine packen?« Noah schaute kurz.
»Das sollte in eine passen.«, sagte er und grinste. »Machen wir.«, sagte die Verkäuferin und packte.
»So, bitte schön. Dann hätten wir 4,20 €.«
»Ja, kommt sofort.« Er durchwühlte seine Taschen. Er wühlte und wühlte. Aber je länger es dauert, bis man sich einer Sache sicher ist, desto peinlicher wird es. Insbesondere dann, wenn man selbst der Letzte ist, der es bemerkt.
»Hat der kleine Noah sein Taschengeld verloren?«, fragte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um.
»Judy.« Sie grinste und nickte der Verkäuferin zu.
»Ich zahl das für den Kleinen hier mit.«, sagte sie und dann grinste auch die Verkäuferin.
»Ich danke dir. Das ist mir so peinlich.«
»Zwei Schoko-Croisannts zum Mitnehmen, bitte.«, sagte sie zur Verkäuferin.
»Noah, wenn dir das schon peinlich ist, musst du noch sehr viel lernen. Verdammt viel.«, sagte sie und seufzte.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
»Zum Friseur. Der würde dir auch mal wieder gut tun.«
»Seit wann weiß ich, was gut für mich ist?«
»Dafür hast du ja mich.«, sagte sie und wuschelte durch seine Haare, »So, jetzt lass die Tante mal brav bezahlen und wenn du ganz artig bist, komme ich heute Abend vorbei und verpasse dir einen neuen Kopf. Wie klingt das?«
»Kühl.«, sagte Noah. Aber ganz sicher war er sich nicht. Trotzdem verließen sie eine halbe Minute später die Bäckerei, um dann getrennte Wege zu gehen.

 

© Ulrich P. Hinz

Schreibe einen Kommentar