Kapitel 5: Psychologen, Schrott und Flipper

(Psychologen, Schrott und Flipper)
Noah hatte sich zurück auf das Sofa geschleppt. Er zitterte. Am ganzen Körper. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Es gibt Ereignisse, die brennen sich tiefer in ein Gehirn als andere. Die meisten Sachen, mit denen unsere Wahrnehmung so ganz alltäglich bombardiert wird, landen bekanntlich auf dem gehirneigenen Schrottplatz. Und so ein Schrottplatz ist im Maßstab betrachtet unvorstellbar groß. Jeder, der schon einmal auf einem richtigen Schrottplatz gestanden hat, der in diese überwältigenden Berge aus Rost und Metall schauen durfte, diese Gebirge der modernen Vergänglichkeit, für die Joseph Beuys bestimmt einen passenden Begriff gehabt hätte, weiß das. Nichts geht jemals verloren. Energieerhaltungssatz. Physiker denken einfach so. Und genau aus diesem Grund hatte Noah sich das Fernsehen, Radio und die Zeitungen abgewöhnt, um die Sache mit dem Schrottplatz überschaubarer zu halten. Nach seinen eigenen Berechnungen gehörten weit über 69% dieses ganzen Schwachsinns ins Reich der Werbung und Propaganda. Und er stellte sich die Fragen: Betrifft es mich? Mein Leben? Mein direktes Umfeld? Und da das erschreckenderweise überwiegend selten der Fall ist, zog er einen Schlussstrich und gab es auf.
Die Nachbeben spürte er allerdings noch deutlich. Wer einmal mit dem Rauchen aufgehört hat, kennt das. Man fällt in ein scheinbares Loch aus Sinnlosigkeit und Verzweiflung. Dantes Hölle vor Augen. Doch genau das Gegenteil ist im Grunde der Fall. Ihr, die ihr hier austretet, euch wird Wahrhaftigkeit zuteil. Schön, in Gedanken klingt das vermutlich besser, als wenn man es laut in die Welt hinausposaunt. Aber das ist vollkommen normal. Sokrates soll auf einem Marktplatz gesagt haben: »Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf.« Und wenn einer einen Heldenstatus verdient hat, dann Sokrates. Die Bremse von Athen. Der Held der Jugend. Der weise Zeigefinger, der sich gerne tief in offene Wunden bohrte und die scheinbar Wissenden auf unvergleichliche Weise verspottete. Wobei er den wirklich Wahrheitssuchenden die Weisheit wie eine Hebamme aus den Schrottplätzen ihrer Gehirne kitzelte. Da das Interesse der Mächtigen an Bremsen seinerzeit aber deutlich im negativen Bereich lag, also weit unter null, brachte man ihn kurzerhand um die Ecke. Selbst wenn die negativen Zahlen damals noch unbekannt waren und abschließend nicht vollständig geklärt werden konnte, wo diese Redensart, jemanden um die Ecke bringen, eigentlich herkommt, es ist und bleibt eine Schande.
Der Exorzist klingelte in seinem Handy. Auch wenn er sich regelmäßig dabei erschreckte, Noah liebte diese Musik.
»Hallo?«
»Schönen guten Tag. Hier ist die Praxis Junghans und Mohnfeld, Feldmann mein Name, spreche ich da mit Herrn Noah C.?«
»Natürlich.«
»Herr C. schön, dass ich Sie erreiche. Wir müssen Ihren Termin morgen leider absagen, und ich wollte fragen, ob Sie eventuell am Freitag um 11 Uhr Zeit hätten?«
»Äh, schon wieder absagen? Das ist jetzt das zweite mal in kurzer Zeit.«
»Ja, das stimmt leider. Und dafür müssen wir uns aucht bei Ihnen entschuldigen.«
»Das ist schön. Aber sollte ein Psychologe für seine Patienten nicht irgendwie eine Art Konstante darstellen?«
»Ja, sicher. Und genau deswegen haben wir extra für Sie noch einen Termin am Freitag eingeschoben. Sie wissen ja, wie schwierig es ist, bei uns überhaupt einen Termin zu bekommen. Ich weiß, das ist alles etwas unglücklich gelaufen, aber die beste Lösung, die ich Ihnen hier und jetzt anbieten kann, lautet Freitag.«
»Freitag.«
»Genau. Freitag um 11 Uhr.«
»Und der Termin funktioniert dann auch?«
»Auf jeden Fall.«
»OK, ich lass mich überraschen.«
»Super. Dann trage ich Sie für Freitag 11 Uhr ein. Gut, nochmals vielen Dank für Ihr Verständnis, und ich wünschen Ihnen noch einen schönen Tag.«
»Danke. Den wünsch ich Ihnen auch.«
Noah warf das Handy neben sich und es hüpfte auf dem Sofa lustig aus. Die Lady hatte recht, Termine bei einem Psychologen sind tatsächlich schwer zu bekommen. Und obwohl er eigentlich nicht an die Psychologie glaubte, war er trotzdem enttäuscht. Er glaubte vielmehr an eine Dreifaltigkeit der Naturwissenschaften. Es existiert positiv, negativ und neutral. In allem. Das reicht für ein komplettes Leben und vielleicht sogar für den ganzen Rest. Über eine solche telefonische Absage kann man sich ärgern, man kann sich freuen, oder es ist einem egal. Positiv, negativ, neutral, wobei die Reihenfolge keine Rolle spielt, da sie ohnehin nicht existiert. Alles andere sind magnetische Spielereien. Ladungsaustauschtendenzen. Im Grunde sind wir mehr oder weniger funktionstüchtige Biomagneten, die lediglich das Gefühl haben, eine Flipperkugel gleich nach dem Abschuss zu sein. So einfach ist das. Und für diesen Schwachsinn haben Wissenschaftler tausende von Jahren verschwendet.

 

© Ulrich P. Hinz

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