Kapitel 4: Urlaub, Horrorfilm und gute Freunde

(Urlaub, Horrorfilm und gute Freunde)
Judy Garland, die eigentlich Simone Blumfeld hieß, war aufgebrochen, um Plakate zu kleben. Noah saß auf dem Sofa. Glotzte durch das linke Fenster, das ihm heute irgendwie nicht mehr ganz geheuer schien. Während das rechte still vor sich hin schwieg. Fast schon beleidigt wirkte. Ähnlich wie bei den zwei Gehirnhälften. Eine klare Trennung zwischen links und rechts. Trotzdem läuft das meiste über Kreuz. Die Gehirnexperten sagen so und so. Aber im Grunde ist es wie bei den Meeresbiologen. Ab einer gewissen Tiefe stochern sie alle im Dunkeln. Und das einzige, was diese beiden Fenster wirklich gemeinsam hatten, neben ihrer Größte, war der Umstand, dass sie dringend geputzt werden mussten. Noah schaute darüber hinweg. Ein letzter Rest fast kalter Kaffee in seiner Hand. Genauer gesagt in einer Tasse, die mit Formeln verziert war. Die berühmteste Formel der Welt natürlich größer und besser lesbar als der Rest. Vom kleinen Patentamtsfuzzi zum Meister aller Klassen. Und ob der Sieg in der ersten oder zwölften Runde kommt, das Ergebnis ist dasselbe. Wenn auch nicht das gleiche. Alles in allem relativ. Aber sind wir ehrlich, ein Boxer, der seinem Gegner schon in der ersten oder zweiten Runde die goldene Kokosnuss an die Rübe donnert, hat mehr Zauberkraft, als ein zweifelhafter Punktsieg es jemals haben könnte. Die Welt braucht Eindeutigkeit. Der Mensch braucht Helden. Und Noah brauchte einen neuen Kaffee.
Urlaub ist die Zeit im Laufe des Jahres, die am schnellsten vergeht. Auch das ist relativ. Wobei nicht abschließend geklärt werden kann, ob es sich um eine physische oder psychologische Relativität handelt. Solche Unterschiede dürfte es gar nicht geben. Noah hatte noch gute zwei Wochen. Anfangs fühlt man sich wie ein Kind am ersten Tag der Sommerferien. Eine ganze, herrliche Ewigkeit liegt vor dir und du fühlst dich freier als ein Vogel über den Wolken. Dieses Gefühl hält einige Zeit durch. Solange, bis die Gewohnheit an seine Stelle tritt. Und ein gutes Gefühl, das sich allmählich in eine Gewohnheit verwandelt, ist das beste überhaupt. Spätestens ab der 5. Woche fängt die ganze Sache an zu kippen. Wenn einem klar wird, dass der schöne Zauber bald schon wieder vorbei ist, und der sogenannte Ernst des Lebens seine knöchrigen Finger wie in einem schlechten Horrorfilm nach dir ausstreckt. Noah hatte dieses Gefühl als Kind meistens schon in der ersten Woche.
Die Türklingel rasselte wie nichts Gutes. Noah zuckte zusammen. Immer wieder gerne. Er drückte den kalten Kaffee durch seinen Hals und stellte die Tasse auf den Tisch. Aus einem Sofa hochzukommen, ist nicht immer leicht, wenn die Hölle La Paloma pfeift. Die Liebesbeziehung mit seiner Haustür kam nicht von ungefähr. Auch wenn er jetzt wieder vor ihr stand und in Begriff war, sie erneut zu öffnen. Klinke runterdrücken und ziehen. Wie gehabt. Da stand die Polizei. Die Polizei dein Freund und Helfer. Und in diesem Moment wusste Noah, wie sich schockgefrorenes Gemüse fühlt.
»Guten Tag. Die Polizei. Mein Name ist Lübberrs und das hier ist mein Kollege Stölzel. Wir gehen einem Hinweis nach, dass in diesem Haus eine männliche Person möglicherweise aus dem Fenster springen wollte.« Noah starrte die beiden an.
»Das ist ja schrecklich.«
»Beschrieben wurde ein schlanker Mann in Jeans und gelben T-Shirt.«
Noah sah an sich runter. Gelbes T-Shirt, Jeans, weiße Nikes.
»Dürfen wir mal reinkommen?«
»Nein… Hören sie, das ganze ist ein riesen Missverständnis. Ich weiß nicht, was da jemand gesehen hat oder gesehen haben will, aber ich putze nur. Das ist auch schon alles. Fensterputz und fertig.«
Seine Stimme klang sicherer, als er das erwartet hatte.
»Und zum Fenster putzen steigen sie immer auf die Fensterbank, ja?«
»Familientradition. Ist das verboten?«
»Nein, aber ich rate ihnen dringend, ihre Familientradtion noch einmal zu überdenken.«
»Was stimmt damit nicht?«
»Die Tasache, dass anderen Menschen sie möglicherweise falsch verstehen und die Polizei rufen.«
»Hm, dafür kann ich zwar nichts, aber gut, ich werde in mich gehen und ganz wie sie sagen, diese Tradition noch einmal gründlich überdenken. OK?« Dabei faltete er die Hände und beugte den Kopf wie ein buddhistischer Mönch, der sein Namaste als kleinen Schmetterling in die Welt hinaus entlässt..
»OK. Und sie sind sicher, dass sonst bei ihnen alles in Ordnung ist?«
»Natürlich bin ich mir sicher. – Wenn das alles ist, entschuldige ich mich vielmals für das Mißverständnis. Aber ich habe noch einiges zu erledigen.« Die beiden Polizisten sahen sich an.
»Gut.«,sagte Lübbers, »Dann seien sie bloß vorsichtig. Die meisten Unfälle passieren bekanntlich im Haushalt. In diesem Sinn, auf Wiedersehen.«
»Muß nicht sein. Aber trotzdem vielen Dank.«
Noah schloss die Tür. Noch nie hatte er sie so sehr geliebt wie in diesem Moment. Er hörte die beiden weggehen. Ein Blick durch den Spion zeigte nur noch den nackten Hausflur und Judys Wohnungstür auf der anderen Seite. Wie innen so außen.

 

© Ulrich P. Hinz

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