Kapitel 16: Musik, Mondlandschaften und ein Eis

(Musik, Mondlandschaften und ein Eis)
Die Sonne war schon vor ein paar Stunden aufgestanden. Noah lag im Bett und öffnete die Augen. Es dauerte eine Zeit, bis er sich erinnerte, dass er Urlaub hatte. Sein Mund fühlte sich trocken an. Er nahm die Flasche Wasser, die auf dem Schränkchen neben seinem Bett stand, schraubte sie auf und trank ein paar Schlucke. Der Wecker zeigte 9:17 Uhr. Er stellte die Flasche zurück und stieg aus dem Bett. Wünsch dir was, sagte das Gehirn. Aber diese Stimme klang so gar nicht nach ihm. Sie kam aus dem Off, wie viele seiner Gedanken. Doch auch beim Denken war die Stimme eine andere. Nur war ihm das bis jetzt nicht aufgefallen. Oder er hatte einfach nie darüber nachgedacht. Dann dachte er bewusst: Wünsch dir was. Aber die Denkstimme und seine Sprechstimme waren nicht dieselben. Erst als er es aussprach: »Wünsch dir was«, gelang es ihm, die Denk- und Sprechstimme in Einklang zu bringen. Doch schon bei den nächsten Gedanken war der Zauber wieder vorbei.
»Ich wünsche mir eine Tasse Kaffee.«,sagte er und zog in die Küche. Da stand ein Mann. Ein Mann in einem schwarzen Anzug und mit einem breiten Grinsen.
»Der Herr wünscht einen Kaffee?«, fragte er und machte eine tiefe Verbeugung.
Noah starrte ihn an. Er bekam kaum Luft. Sein Gehirn drehte sich einmal um die eigene Achse. In seinem Herzen hämmerte der Rhythmus von »We will rock you«.
Der Mann griff in die Tasche, holte einen Glückskeks heraus und zerbrach ihn. Er nahm den Spruch und las vor:
»Eine Selbstverständlichkeit die sich in einen Wunsch verwandelt, lehrt Dankbarkeit.«
Noah schluckte. Er stand regungslos da wie ein Baum. Sein Mund wollte etwas sagen. Aber das Gehirn ließ ihn nicht. Eine Hitzewallung schlug wie ein Blitz in ihm ein. Und er merkte, dass Schweißperlen sich auf seinem Kopf bildeten.
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Bitte schließen Sie kurz Ihre Augen.«
Noah wollte die Augen nicht schließen. Aber je mehr er sich wehrte, umso schwerer wurden sie. Und er wusste nicht, ob er Angst hatte oder unter Schock stand, als es dunkel wurde. In seinem Kopf spielte ein Walzer und die Welt drehte sich im 3/4 Takt. Drehte und drehte. Mit Nina im Hochzeitskleid auf dem Opernball. Und sie lachten und jubelten. Tanzten durch, bis Jim Morrison das Ende besang. Noah öffnete seine Augen. Er war allein. Eine Träne rollte an seiner Wange herunter. Er stand vor der Kaffeemaschine. Das Herz hatte sich beruhigt. Tickte wie eine Uhr, die nachgeht. Er startete die Maschine und schaute dem Kaffee beim Fließen zu. Seine Gedanken mischten sich mit dem Duft und die Sonne verteilte sich im Raum. Das Handy klingelte. Noah schaute auf das Display. »Unbekannte Nummer«. Er zögerte. War irritiert.
»Hallo?« Auf der anderen Seite blieb es still. »Hallo?« Nichts. Noah lauschte und legte dann auf. Er dachte nach. Ging in Gedanken eine Liste durch. Aber alle, die ihm in den Sinn kamen, übertrugen ihre Nummern. Er legte das Handy auf den Tisch. Ein flüchtiger Blick fiel auf seine Gitarre, die brav in einem Ständer lehnte. Und wieder zurück auf das Handy. Er nahm es. Tippte sich zu den eingegangenen Anrufen durch. Unbekannte Nummer war der letzte. Wer zum Einstein war das? Noahs Füße kribbelten. Er stand auf, warf das Handy aufs Sofa und nahm die Gitarre. Mit einer Staubschicht hatte er nicht gerechnet. Wie ein Kokon, dachte er, holte ein Tuch und rubbelte sie sauber. Das Plektrum steckte zwischen den Saiten. Er nahm es, griff einen C-Durakkord und ließ ihn klingen. C-Dur war für ihn die Mutter aller Tonarten. Aber die Mutter war verstimmt. Er setzte sich auf das Sofa, öffnete im Handy die Stimmgeräteapp und legte los. Die Wirbel knarzten. Eine alte Dame geht heute essen. Mit diesem Satz hatte Noah die Namen der Saiten gelernt. Er war 10 Jahre alt. Und jetzt stimmten sie wieder. Er griff einen G-Durakkord, den Vater aller Tonarten. Er klang sauber und gut. In der Zeit als Nina starb, bewegte er sich oft in f-Moll. Somit wurde f-Moll für ihn die Tonart des Todes. Und obwohl das dunkelster Aberglaube war, hielt er bis heute daran fest. Ein Herz fühlt, was es fühlt. Er griff einen D-Durakkord. Ihre Tonart. Es klang zart und ließ ihn lächeln.
Die Musik war für Noah die göttlichste aller Künste. Und doch stellte er die Gitarre zurück auf den Ständer. Der Gedanke, sie kurz und klein zu schlagen, tauchte am Rande auf. Er betrat die Bühne. Das Scheinwerferlicht brannte und der Schweiß floss in Strömen. Beide Hände umklammerten ihren Hals. Rissen sie in die Höhe. Die Menge tobte. Sie schrien und grölten. Heiliger Dionysos mach uns frei. Und wie das Beil des Henkers schlug sie ein. Die Splitter fetzten. Er schlug und schlug. Bis der Hals brach und der Körper nur noch leblos an den Saiten hing. Ein letzter Schlag. Er sank auf die Knie und weinte.
Das Handy holte ihn zurück. Er brauchte ein paar Sekunden. Schaute dann auf das Display. Unbekannte Nummer. Er spürte, wie es in der Kehle eng wurde. Diese zwei Worte schossen durch sein Gehirn. Multiball. Drei Kugeln für eine. Die Flipper klackten. Es schepperte, klingelte und kurz vor dem Freispiel nahm er ab.
»Hallo?« Es blieb still. »Hallo?« Nichts. Den Wunsch, das Handy an die Wand zu klatschen, unterdrückte er. In Märchen mochte das klappen. Hier würde es nur eine Stange Geld kosten. Er schaltete es aus. Tigerte sinnlos im Zimmer auf und ab. Wollte es rausbrüllen. Aber das Gehirn ließ ihn nicht. Er öffnete das Fenster und sein Blick wanderte zu der Stelle, wo sie den Igel begraben hatten. Ein paar Meter daneben lag ein aufgespannter, roter Regenschirm. Der Griff zeigte in den Himmel. Noah betrachtete ihn genau. Und es hatte den Anschein, dass er noch gut in Schuss war. Wie kam der hier auf die Wiese? Zumal es seit Tagen nicht geregnet hatte. Noah schüttelte den Kopf. In einer Filmkritik hieß es: Der rote Regenschirm ist der billige Versuch, einer trostlosen Handlung, die bis an die Schmerzgrenze langweilt, wenigstens etwas Farbe zu verleihen. In einem Videospiel: Noah musste runterlaufen, den Schirm untersuchen und dann einsacken, um Punkte klar zu machen. Ein roter Regenschirm ist ein wertvolles Item. Aber das hier war das Leben. Das Ding lag auf der Wiese und fertig. Keine Magie, kein Hokuspokus. Die Sonne ließ den Regenschirm leuchten. Noah schloss das Fenster und ging aufs Klo.
Gegen 14:07 Uhr war es heiß auf den Straßen. Die Luft flimmerte wie nichts Gutes. In einem Western würde es gleich ein Duell geben. Die Menschen schwitzen. Und Noah war einer von ihnen. Auch wenn er sich nicht so fühlte. Zwei Jugendliche schossen mit ihren Skateboards an ihm vorbei.
»Das ist hier verboten.«, rief ein alter Mann. Aber seine Stimme klang schwach und abgenutzt. Die Kids drehten sich nicht einmal um. Der Alte schimpfte still vor sich hin und trippelte weiter. Noah folgte ihm eine Zeit. Setzte einen Fuß vor den anderen. Aber es fiel im schwer, so langsam zu laufen. Er überholte. Der Schädel des Alten sah aus wie ein Totenkopf auf Abruf. Jolly Roger hart am Wind. Flaute in den Segeln.
»Darrr, ihr räudigen Süßwassermatrosen …«
Er ließ das Schimpfen hinter sich. Es versank im Gemurmel der Stadt. Nach ein paar Metern kam ein Eiscafé. Es parkten vier Tische auf dem Bürgersteig. Ein Kellner im weißen Hemd und schwarzer Hose lehnte am Eingang und lauerte. Drei der Tische waren besetzt. Noah überlegte kurz. Eis oder kein Eis. Das war schon bald nicht mehr die Frage, denn ein Yuppiepärchen eroberte den Tisch kampflos. Noah sah in das kleine Café hinein. Die Truhe mit all den bunten Versprechungen nach köstlicher Erfrischung und Abkühlung ließ ihn nicht mehr los. Schon stand er direkt vor ihr. Eine Frau hinter der Truhe kam auf ihn zu. Ihr Lächeln schlug bei Noah ein wie die Bombe in einer Zahnpastareklame.
»Was darf es denn sein?«
»Ja, ich hätte gerne zwei Kugeln. Stracciatella und Amarenakirsch, bitte.«
»Waffel oder im Becher?«
»Waffel.«
»Gerne«, sagte sie, nahm eine Waffel und drückte die beiden Kugeln hinein. Dann stellte sie das Kunstwerk in den Ständer, der auf der Theke wartete.
»2,50 €, bitte.«
Noah kramte sein Kleingeld aus der Hosentasche und zählte.
»So, bitte schön.«, sagte er und gab ihr das Geld in die Hand.
»Vielen Dank und einen schönen Tag noch.« Ihr Lächeln breitete sich in seinem Gehirn aus.
»Ihnen auch.«, erwiderte er und drehte sich um. Zwei, drei Schritte, und der Bürgersteig hatte ihn wieder.
Das Eis war gut. Auf der Straße drängelte sich ein Krankenwagen mit Blaulicht durch den Verkehr. Noah schlabberte an seinem Eis wie ein Schuljunge. Als Kind konnte man große Teile der Welt einfach ausblenden. War ganz bei sich. Dazu brauchte es wenig. In diesem Fall genügte ein Eis. Vor einer Drogerie saß ein Penner in kurzer Hose. Das war alles, was er anhatte. Keine Schuhe, kein Hemd, nur diese zerfledderten Shorts. Seine Haut erinnerte an eine Mondlandschaft. Blutige Krater und verkrustete Wunden. Das Gesicht von der Sonne verbrannt. Houston, we have a problem. Noah schätzte ihn auf Mitte dreißig. Neben ihm lag ein alter Rucksack. Vor ihm eine ausgeleierte Tupperdose. Die paar Münzen hätten nicht einmal für eine Kugel Eis gereicht. Noah fischte sein ganzes Kleingeld aus der Hosentasche. Knapp 3 Euro. Er beugte sich runter und ließ es in die Tupperdose regnen. Der Mann blickte ihn an.
»Danke.«
Noah nickte. Als er seinen Weg fortsetzte, fühlte er sich irgendwie anders. Weder gut noch schlecht. Nur anders. Das Eis war fast geschafft. Der letzte Rest im Ende der Waffel. Ein Happs und vorbei. An der nächsten Querstraße stand der Krankenwagen. Das Blaulicht funkelte durch die Mittagshitze. Ein paar Menschen stauten sich an der Unfallstelle. Noah blieb stehen. Er überlegte kurz. Die Richtung stimmte. Der Blick auf die andere Straßenseite enttäuschte. Keine Chance. Langsam ging er weiter. Die Polizei war schon da. Mit jedem Schritt merkte er, wie seine Füße schwerer wurden. Keine fünfzig Meter mehr. In einem Horrorfilm hätte man sich spätestens jetzt aus dem Staub machen sollen. 30 Meter. Von oben stürzte ein Klavier aus dem Fenster und landete genau vor Noahs Füßen. Falscher Film. Warum hatte der Mann mit der Mondhaut keine Schuhe an? 20 Meter. Zwei Sanitäter knieten auf dem Asphalt und kämpften um ein Leben. An der Ecke erkannte Noah einen der Skateboardkids. Er sprach mit einer Polizistin. Stand spürbar unter Schock. Blutete am Arm. War blass wie eine Leiche. 10 Meter. Noah zog nach rechts und bog in die Seitenstraße ein. 20 Meter. Seine Füße waren immer noch schwer. Aber mit jedem Schritt wurde es besser. Die Mittagshitze hatte die Straße fest im Griff. Ein paar Schweißtropfen liefen direkt in seine Augen. Es brannte und er blinzelte, als er am Himmel einen riesigen roten Drachen entdeckte, der majestätisch über den Häusern schwebte. Noahs Augen standen in Flammen. Er kniff sie zu, drückte seine Handballen drauf und rieb. Der Schmerz verteilte sich. Wurde weniger. Er nahm die Hände von den Augen. Klimperte ein paar Mal und die Straße war wieder da. Vor ihm stand eine Rollstuhlfahrerin.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, »Was ist denn da vorne los?« Noah sah sie an und zeigte in den Himmel.
»Da oben.«, sagte er. Sie schaute hoch.
»Nicht da oben. Da vorne an der Kreuzung. Da ist doch Blaulicht.« Noah sah sich um.
»Ein Unfall mit einem Skater, glaube ich.«
»Ach herrje. Hoffentlich nicht so schlimm.«
»Sah nicht gut aus.«, erwiderte Noah.
»Hm, da muss ich jetzt wohl durch.« Sie schaute noch einmal kurz nach oben und rollte dann an Noah vorbei.
Der Blick in den Himmel war wieder klar. Keine Drachen. Er schüttelte vorsichtig den Kopf und lief weiter. Nach ein paar Metern holte er das Handy aus der Tasche und schaltete es ein. Auf seiner Mailbox war eine neue Nachricht.
»Noah, Judy hier. Wo steckst du? Meld dich nachher mal. Ich hab eine Überraschung für dich.«
Er lächelte und löschte die Botschaft. Und als er das Handy zurück in die Taschen stecken wollte, klingelte es. Unbekannte Nummer.
»Hallo?«

 

© Ulrich P. Hinz

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