Kapitel 13: Frauenbrüste, graue Haare und ein Ohr

(Frauenbrüste, graue Haare und ein Ohr)
Es schellte. Noah hasste diese Schelle. Sie fühlte sich jedes Mal wie ein Stich in seinem Herzen an. Herz und Hirnhaut. Beide tief erschüttert. Er schaute durch den Spion. Judy mit neuer Frisur. Als er die Tür aufzog, grinste sie feierlich.
»Na, wie seh ich aus?«, sagte sie und machte einen höflichen Knicks.
»Anders.«, sagte Noah.
»Anders gut oder schlecht?«, fragte sie und zeigte die Zähne.
Er sah sie an.
»Doch, gefällt mir.«, sagte er ohne große Überzeugung.
»Noah, Schatz, wenn eine Frau vom Friseur kommt, braucht sie besonderen Beistand. Also, selbst wenn es dir nicht gefällt, lobe es in den allerhöchsten Tönen.«, sagte sie mit einem Wohlwollen in der Stimme.
»Ja, äh, nein, es gefällt mir wirklich. Du siehst aus wie eine echte Jazzdiva.«
»Na bitte, geht doch. Nächstes mal noch etwas spontaner und mit mehr Überzeugung, dann bist du auch wieder im Rennen.«, sagte sie und grinste.
»Ich werd’s mir merken. Willst du was trinken?«
»Nein, danke. Wir haben nachher noch Probe. Also wenn du noch einen neuen Putz willst, sollten wir gleich loslegen.«, sagte sie und zeigte auf Noahs Kopf.
»Ich weiß nicht. Irgendwie ist mir nicht danach.«
»Komm schon. Ich kürze es nur ein bisschen. Etwas Form kann nie schaden. Und ich hab extra meine Scheren mitgebracht.« Sie zog einen Schmollmund.
»Na schön. Ich hol ein Handtuch.«
»Noah, Süßer, das wird dir guttun. Vertrau mir.«, sagte sie und klimperte mit den Augen. Dann zog sie den Reißverschluss von ihrem Kulturbeutel auf und Scheren, Bürsten und Kämme kamen zum Vorschein. Sie legte den Beutel auf den Tisch und stellte den Stuhl an den richtigen Platz.
»Hopp, hopp, Handtuch.«, sagte sie und zeigte in Richtung Bad.
Noah holte ein Handtuch und drückte es ihr in die Hand.
»Bitte schön.«
»Danke sehr. Wenn der Herr bitte Platz nehmen möchte?«
Noah setzte sich und Judy legte das Handtuch um seinen Hals.
»Wenn ich nächstes Mal mehr Zeit habe, sollten wir deine Haare färben. Ich würde vorschlagen, die eine Hälfte orange, die andere, sagen wir violett. Wie klingt das?«
Noah sah sie an. »Aber sonst kannste noch alles kauen, ja?«, sagte er und beide lachten.
»Hey, immerhin bist du in der Werbung, da kann es doch schon mal etwas verrückter sein. Oder nicht?« Sie fuhr mit einem Kamm durch Noahs Haare.
»Das täuscht.«
»Kann ich mir vorstellen. Viel muss nicht runter. Ich kürz ein bisschen hier, hier und hier. Das sollte reichen. OK?«
»Ja, mach einfach.«
»Das ist die richtige Einstellung. Schließ die Augen und entspann dich.« Sie schnappte sich eine Schere, »Wir kriegen das hin.«
Noah schloss die Augen. Judy kämmte noch einmal durch und drückte seinen Kopf dabei mit jedem Strich an ihre Brüste.
»Na, kannst du dich an die beiden Ladies noch erinnern?«, fragte sie mit einer Stimme, die schwer nach Jazz klang. Noahs Mundwinkel wanderten leicht nach oben.
»Wie könnte ich die vergessen?«, sagte Noah und seine Stimme klang entspannter, als er sich fühlte. »Ja, solche Prachtexemplare sind nur schwer zu vergessen.«, sagte Judy, »Das wissen wir.«
»Ja, das wissen wir.«, murmelte Noah wie kurz vor dem Einschlafen. Die Schere begann zu schnippen und zu schnappen. Und in Noahs geschlossene Augen tanzten alle möglichen Bilder wild durch die Gegend. Als er plötzlich ein dumpfes Geräusch an seinem rechten Ohr hörte. Es klang wie die Heckenschere eines Gärtners. Gefolgt von einem Schmerz, der ihn aufspringen und brüllen ließ. Er schrie, wie er in seinem ganzen Leben noch nie geschrienen hatte. Und seine weit aufgerissenen Augen sahen das Ohr in Zeitlupe auf den Boden fallen. Blut spritze in einem dicken Strahl überall auf den Teppich. Er taumelte durch das Zimmer. Drückte beide Hände auf die Wunde, konnte die Blutung aber nicht stoppen. In alle Richtungen schoss das Blut und der Raum sah schon bald aus, wie in einem schlechten Splatterfilm. Noah sank auf die Knie. Er weinte und brüllte wie ein angeschossener Löwe, hob seine Arme flehend zur Decke und das Blut lief an diesen Armen herunter. In dicken Tropfen. Bis der Schmerz ihm schließlich das Bewusstsein raubte. Judy lachte.
»So, wir haben es gleich schon geschafft. Ich hab wieder ein paar graue Haare entdeckt. Is noch nicht so wild, aber vielleicht denkst du doch irgendwann mal über das Färben nach. Ideen hätte ich viele.«, sagte sie und machte ein Geräusch mit ihren Lippen.
»Ist mir egal. Und außerdem ist Grau auch eine Farbe. Sogar eine, die etwas aussagt.«
»Was denn? Seht mich an, ich bin alt?«,
»Na ja, die Weisheit kommt irgendwann durch.« Er und öffnete die Augen.
»Nicht jeder, der graue Haare hat, ist automatisch weise.«, sagte Judy und kämmte noch einmal durch.
»Nein, aber jeder könnte es sein.«
»Ja genau. Und ich könnte auch eine berühmte Jazzsängerin sein.« Sie sang vier Noten.
»Ja, das könntest du in der Tat. Ich meine, du hast das Talent. Der Rest kann sich entwickeln. Ich glaube, es ist im Grunde eine Frage der Entscheidung.«, sagte Noah und nickte nachdenklich den Kopf.
»Eine Frage der Entscheidung? Da draußen rennen so viele gescheiterte Entscheidungen durch die Welt, dass ich kotzen könnte. Ich denke, es ist reine Glücksache.«
»Diese Form von Glück ist nicht besser, als der Zufall. Und du weißt, dass ich nicht an Zufälle glaube.«
»Ja, ja, ich weiß. Kausalität und so.« Dann nahm sie das Handtuch von seinem Hals.
»So, die paar Haare auf dem Teppich kannst du wegsaugen.«
»Und, bin ich jetzt total verunstaltet?«, fragte er und lachte. Judy zog eine Schnute.
»Noch nicht.«, sagte sie und lachte ein böses Hexenlachen, »Du weißt, wo der Spiegel hängt.«
»OK, ich danke dir.«
»Das macht dann einmal Sex zum Mitnehmen.«, flüsterte sie, legte ihre Hände auf seine Schultern und begann zu massieren.
»Setz es auf die Rechnung. OK?«
»Na schön. Aber denk daran, irgendwann ist Zahltag.« Sie zeigte ihre Zähne und knurrte.
Noah stand auf und ging ins Bad. Das Spiegelbild war leicht irritiert, aber nicht entsetzt.
»Und?«, fragte Judy, während sie ihr Zeug zusammen packte.
»Hm, ich werd dich auf jeden Fall nicht verklagen.«
»Wie viel Glück kann ein Mensch haben?«Sie machte eine kurze Stimmübung.
Noah schlurfte zurück.
»Wann habt ihr Probe?«
»Um acht.«
»Und, schon nervös vor Samstag?«
»Nicht mehr als sonst auch. Ich schätze, wir haben das im Griff.« Sie holte einmal tief Luft.
»Ja, ihr werdet das rocken.«
»Natürlich. Smooth and easy. Du kommst doch, oder?«
»Na ja, meine Tante hat Geburtstag. Aber bis zum Abend wird das hoffentlich gegessen sein. Ich geb mein Bestes.«, sagte Noah und hob den Daumen.
»Schön. Gut, ich bin dann mal los.« Sie grapschte sich den Kulturbeutel.
»OK, und danke nochmal. Viel Spaß auf der Probe.«
Sie umarmten sich und Judy zog ab. Noah ging noch einmal ins Bad und bürstete seine gekürzten Haare. Das Spiegelbild sah ihn an. Er legte die Bürste zurück auf die Ablage und ihre Blicke trafen sich. Manchmal hatte Noah Angst vor diesem Spiegelbild. Eine Angst, die von den Augen in seinen ganzen Körper fuhr und sich wie ein frostiger Schauer in jeder einzelnen Zelle verkroch.
»Wir müssen reden.«, sagte das Spiegelbild.
»Nein, müssen wir nicht.«, sagte Noah und verließ das Bad.

 

© Ulrich P. Hinz

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