Kapitel 12: Buddha, Bücher und Bruce Lee

(Buddha, Bücher und Bruce Lee)
Noah spülte. Manchmal überkam es ihn. Dann sammelte er sämtliches Geschirr in der ganzen Wohnung ein und legte los. Das war der Buddhist in ihm. Zen, über die Kunst des Geschirrspülens. So stellte er sich das immer vor. Es gab eine Zeit, da las er alles über den Buddhismus, was er in die Finger kriegen konnte. Und auch wenn diese Zeiten vorbei waren, die Spuren, die so etwas in einem Gehirn hinterlässt, sind tiefer, als man glaubt.
Und wenn Noah so drauf war, versuchte er, seine ganze Achtsamkeit auf das Spülen zu legen. Wenn du das Spülwasser einlässt, sei das Spülwasser. Spätestens dann hörte er seinen alten Hausarzt sagen: »Die chinesische Medizin hat durchaus etwas für sich. Aber wir sind nun einmal keine Chinesen.« Zum Glück kam dann immer ein Fußkick direkt an den Kopf und die Stimme von Bruce Lee sagte: »Be water, my friend.« Und dann prügelten sich Bruce und der Doktor eine ganze Weile herum, bis Noah schließlich vergessen hatte, worum es eigentlich ging.
Die Spülerei war geschafft. Noah hängte das Handtuch an den Hacken und zog in Richtung Bad. In absehbarer Zeit musste der Buddhist auch hier den Schwamm mal wieder in die Hand nehmen. Aber noch war es OK, sagte der Blick in die Schüssel. Und dabei dachte Noah an Onkel Louis, der immer sagte: »Das Klo ist der Thron des kleinen Mannes.« Wie recht er doch hatte. Auch wenn eine solche Wahrheit nur schwer verdaulich ist.
Die Klopapierrolle war durch. Noah tauschte sie gegen eine volle. Und selbst dabei konnte man gravierende Fehler machen. Er brauchte es zum Beispiel so, dass das Papier über der Rolle hing. Es gibt aber Menschen, bei denen das Papier an der Wand entlang laufen muss. Sonst klappt es nicht. An solchen Kleinigkeiten scheitern ganze Ehen, das wusste er. Es gab so enorm viele gute Gründe, nicht zu heiraten. Auf die Frage, ob man heiraten solle oder nicht, hatte Sokrates geantwortet: »Egal wie du dich entscheidest, du wirst es bereuen.« Und da Noah schon einmal verheiratet war, konnte er das nur bestätigen.
Er ließ die Hosen runter, schnappte sich den Zauberwürfel und nahm Platz. Der Würfel war fertig. Noah schloss die Augen und begann zu drehen. Er drehte und drehte. Um eine feste Struktur in seiner Gänze zu zerstören, braucht es eine gewisse Form von Gründlichkeit. Ab und zu saß Noah dabei in einem Vorstellungsgespräch.
Auf dem Tisch des Personalchefs entdeckte er den Würfel.
»Ah, sie haben einen Zauberwürfel.«, sagte Noah. Der Mann sah kurz auf den Würfel und dann auf Noah.
»Ja, stimmt. Den hab ich irgendwann mal geschenkt bekommen. Aber ich krieg ihn nicht wieder hin.«, sagte er und lächelte.
»Soll ich den für Sie lösen?«, fragte Noah.
Der Personaler sah ihn an.
»Wie lange würde das dauern?«
»Hm, ich schätze mal 2-3 Minuten.«, sagte Noah und lehnte sich gemütlich in seinem Stuhl zurück.
Der Personaler schaute ihm fest in die Augen. Dann grinste er.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Sie den Würfel in unter 2 Minuten lösen, stell ich Sie ein. Wenn nicht, dann nicht.«, sagte er und lehnte sich ebenfalls in seinem Sessel zurück und das Grinsen wurde größer.
»Ah, Sie sind ein Spieler. Das gefällt mir.«, sagte Noah, »Was halten Sie davon, wenn wir die Sache noch etwas spannender machen?«
»Wie sähe das aus?«, fragte er und faltete seine Hände.
»Nun, ich sage Ihnen, dass ich den Würfel in unter einer Minuten löse. Schaffe ich das, legen Sie beim Gehalt 25% drauf. Schaff ich es nicht, bleibe aber unter den 2 Minuten, können Sie 25% von meinem Gehalt streichen. Schaffe ich es nicht unter den 2 Minuten, schütteln wir unsere Hände und das Gespräch ist beendet. Ein Gespräch, das wir beide bestimmt nicht vergesen werden, wie klingt das für Sie?«, sagte Noah und zog die Augen hoch.
Das Grinsen im Gesicht des Personalers stand fest. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein Handy heraus. Tippte etwas darauf rum und legte es auf den Tisch.
»Stoppuhr.«, sagte er und reichte Noah den Würfel, »Sagen Sie, wenn Sie bereit sind.«
Noah nahm den Würfel und betrachtete ihn von allen Seiten. Dann nickte er den Kopf.
»Fertig«, sagte er und der Personaler drückte den Knopf.
In einem Albtraum würde sich der Würfel jetzt kaum drehen lassen. Und Noah hätte sich in den Arsch gebissen, weil er das vorher nicht getestet hatte. Aber das hier war kein Traum, sondern eine Vorstellung. Und in einer Vorstellung geht alles. Noah drehte wie ein Profi. Der Würfel lief gut. Die Farben reihten sich geschmeidig an einander. Seine Finger waren ein eingespieltes Team. Sie drehten und kombinierten wie ein Uhrwerk. Noch vier Züge. Drei, zwei, eins und Noah stellte den fertigen Würfel auf den Tisch. Der Personaler stoppte die Zeit.
»56,8 Sekunden.«, sagte er und lächelte, »Wellcome on board.«
Noah legte den Würfel zurück auf die Kommode und dachte nach. Wie innen so außen. Diese Vorstellungen fühlten sich so real an. »Lass das Tagträumen, Junge.«, hätte sein Vater gesagt. Aber sein Vater war ein braver Beamter. Noah bewunderte ihn zwar, aber wenn er an seine Eltern dachte, hatte er ständig das Gefühl, man hätte ihn als Baby vertauscht. So etwas soll ja vorkommen. Vielleicht war er auch adoptiert und seine Eltern hatten bis heute noch nicht den Mut aufgebracht, ihm das zu sagen. Wobei seine Mutter den Mut mit Sicherheit gehabt hätte, aber schlafende Hunde sollte man einfach schlafen lassen. Sagte sie immer. Und vielleicht war das richtig.
Noah wischte sich den Hintern ab, zog die Hosen hoch und wusch seine Hände. Das Gewinnerteam. 56,8 Sekunden. Gute Zeit. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, stellte er sich vor sein Bücherregal. Alles war hier versammelt. Seine Augen wanderten an den Buchrücken entlang. Und aus über 500 Büchern blieb sein Gehirn ausgerechnet bei Napoleon Hill stecken. »Denke nach und werde reich.« Warum um alles in der Welt sollte man reich werden wollen? Eine Frage, die er sich schon oft gestellt hatte. Andererseits konnte er sich gut daran erinnern, wie er als Kind an einem Freitag mit seinem Vater in einer Lottobude stand. Der Vater erklärte ihm genau, was es mit dem Lotto auf sich hatte.
»Hier Noah, in diesen Kästchen müssen wir sechs Zahlen ankreuzen. Und wenn unsere Zahlen dann gezogen werden, gewinnen wir ganz viel Geld.«, sagte er und hielt Noah einen Lottoschein vor die Nase.
»Und was machen wir mit ganz viel Geld?«, fragte Noah.
»Na ja, damit können wir uns ganz tolle Sachen kaufen. Alles, was du dir wünscht.«, sagte der Vater mit leuchtenden Augen.
»Alles, was ich will?«, frage Noah und auch seine Augen begannen zu leuchten.
»Was du willst.« Er nahm Noah hoch und hielt ihn über der Holztheke.
»So, jetzt kreuz deine 6 Zahlen an.«, sagte er und Noah kreuzte. Dann setze er ihn wieder ab und machte selbst seine Kreuze.
»Perfekt.«, sagte er, »Jetzt müssen nur noch unsere Zahlen kommen, dann sind wir reich.«
Sein Vater bezahlte den Schein, und sie verließen die Bude. Der Rückweg war eine einzige große Träumerei. Was man mit so viel Geld nicht alles kaufen konnte. Ein absolut herrliches Gefühl.
Der große Gewinn kam damals nicht. Aber an dieses Gefühl der freudigen Erwartung konnte Noah sich noch ganz genau erinnern. Nur die Träume hatten sich auf dem Weg hierhin verändert. »Träume sind Schäume.«, hatte sein Vater immer wieder gesagt. Und warum der ihn damals in diese Lottobude mitgenommen hatte, blieb für Noah ein Rätsel. Zumal sein Vater sonst auch nie Lotto spielte. Noahs Mutter erlaubte es einfach nicht.
»Die Verwandlung« grinste ihn an. »Der Idiot« stand bereit, um mit Goethes Faust diverse Fressen zu polieren. Er ließ sie alle stecken und machte erst einmal einen Kaffee.

 

© Ulrich P. Hinz

Schreibe einen Kommentar