Kapitel 6: Multiversen, Kaffeegene und ACDC

(Multiversen, Kaffeegene und ACDC)
Noah kam langsam wieder runter. In der Geborgenheit eines Sofas kann alles passieren. Jeder Mensch schleppt ja bekanntlich ein ganzes Universum mit sich rum. Wie innen so außen. Und wenn ein solches Universum erst einmal auf dem Sofa zur Ruhe gekommen ist, ergeben sich Möglichkeiten. Noah griff nach dem Handy. Tippe, Tappe, Tipp, Anrufen drücken. Es wählte. Der Ton ging ins Ohr. Zweimal. Dreimal.
»Madame Tèbrise, ich kann ihnen helfen.«
»Noah.«
»Ah, Noah, mein süßer, kleiner Goldfisch. Ich habe eben noch an dich gedacht. Was kann ich für dich tun?« So ein französischer Akzent geht direkt ins Blut.
»Hast du heute noch Zeit?«
»Hm, lass mich kurz schauen. Warte, also um sieben wäre ich noch frei. Wie klingt das für dich?«
»Gut, dann bis sieben.«
»So wird es sein, Cherie.«
»So wird es sein. Bis dann.«
»Adieu mon amour.«
Er schaute auf die Uhr. Halb sechs. Normalerweise kann der Deutsche um diese Zeit ein leichtes Magenknurren vernehmen. Pawlow sei Dank. Aber Noah zog es an die Kaffeemaschine. Klappe hochdrücken, Maschine anschalten, Kaffeedose öffnen, Pad nehmen und einlegen, Klappe schließen, warten. Blinken des Lämpchens vorbei. Energie. Was für ein Zauber, wenn das scheinbare Nichts, welches von der berühmtesten Formel der Welt verziert wird, heiß und brodelnd mit dem beliebtesten Getränk der Deutschen langsam gefüllt wird. Noah war ein echter Kaffeejunkie. Das ging zurück auf seine Ur- und Ururoma. Jedes Mal, wenn die beiden erfahren hatten, dass irgendwer gestorben war, setzten sie sich zusammen und bedauerten den Verblichenen. Und nach einigen, dem Toten angemessenen Trauerminuten, sagte die Ururoma dann immer: »Lisbethchen, wir leben ja zum Glück noch. Lass uns jetzt erstmal ein lecker Kaffee kochen.« Damals war Kaffee noch ein echtes Luxusgut. Und das Kochen wesentlich aufwendiger. Jeder, der sich schon einmal mit einer Handkaffeemühle den Wolf gekurbelt hat, weiß das. Die beiden großen Damen hatte er nie kennen gelernt. Menschen, die zwei Weltkriege überlebt haben, ticken vermutlich anders. Aber seine geliebte Oma erzählte oft davon. Und das meistens mit einer Tasse Kaffee in der Hand. An den Genen kommt man einfach nur schwer vorbei. Er nahm die Tasse und setzte sich zurück auf das Sofa.
Ein Haus ist im Grunde genauso ein eigenes Universum wie der ganze Rest. In diesem Fall ein Universum, mit 48 Unteruniversen. Darin enthalten etwa 111 Unterunteruniversen, der Einfachheit halber auch Einzeluniversen genannt, selbst wenn das auf den ersten Blick widersprüchlich klingt. Ein solches Einzeluniversum war Madame Tèbrise. Sie wohnte im 2. Stock und war ein wahres Prachtexemplar. Jeder, der sich mit Astronomie auskennt, würde das verstehen. Eine Reise vom 6. Stock in den 2. hätte bei einer Schnecke mehrere Tage gedauert. Selbst mit Fahrstuhl. Und obwohl Noah meistens die Treppe benutzte, liebte er Fahrstühle. Ein Stuhl, der fährt. Jemand, der über so etwas nachdenkt, ist entweder ein Philosoph oder verrückt. Wobei das eine das andere nicht unbedingt ausschließt. Man kennt das. Er konnte sich gut an seine erste Philosophiestunde erinnern. Der Lehrer kam rein, ohne was zu sagen, und schrieb das Wort Stuhl an die Tafel. Dann schnappte er sich einen und stellte ihn auf das Lehrerpult.
»Wer kann mir etwas über das Wesen eines Stuhls sagen? Fangen wir mit diesem hier an.« Er zeigte auf den Stuhl und nahm die verwirrten Gesichter der Klasse genüsslich in sich auf. Noah liebte diesen Lehrer. Aber das alles war schon viele Ewigkeiten her. Wobei es sich bei vielen Ewigkeiten natürlich um einen Etikettenschwindel handelt. Der Hausflur hatte 112 Stufen. Noah kannte sie alle. Und nachdem der Kaffee auf mysteriöse Weise aus der Tasse in seinen Magen teleportiert worden war, also quasi aus der sichtbaren hier und jetzt Welt, in einem schwarzen Loch verschwunden ist, fühlte er sich gut. Bevor der Kaffee in den deutschen Wohnungen landet, hat er ja bereits mehrere Weltreisen hinter sich. Die Wirtschaft ist ein undurchdringlicher Dschungel. Aber das störte Noah wenig. Er zog einen Zehner aus dem hauseigenen Banksystem, womit ein Umschlag in der mittleren Schreibtischschublade gemeint war und steckte ihn in die Hosentasche. Die Uhr zeigte 6:48. Panta rhei heißt es so schön, alles fließt. Er ging noch einmal aufs Klo und stand dann schließlich auf der anderen Seite seiner Wohnungstür. Für die meisten Menschen ein ganz normaler Vorgang.
Im Flur roch es abenteuerlich. Die Funktionsweise und Bedeutung eines Hausflures wird im Allgemeinen großzügig unterschätzt. Höhlenforscher kennen dieses Phänomen. Und kaum jemand, der schon einmal einen orientalischen Basar mit all seinen Gerüchen, Farben und fantastischen Angeboten durchwandert hat, würde das jemals mit einem Hausflur in Verbindung bringen. Deutsche Hausflure haben in erster Linie sauber zu sein. Einmal pro Woche muss geputzt, gewienert und gescheuert werden, bis der Arzt kommt. Das ist eine deutsche Form der Meditation. Die Mystiker hätten ihren Spaß. Wie innen so außen. Vielleicht ist der Deutsche an sich doch weiser, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Noah ging in Richtung Treppenaufgang, der tagsüber als einzige natürliche Lichtquelle keine unwesentliche Rolle spielte. Aus der Wohnung ganz hinten auf der rechten Seite dröhnte ACDC. Ein Studentenpärchen hauste da. Marvin und Johanna. Noah kannte sie nur vom Sehen. Aber Judy kannte alle und jeden.
Bei der Treppe angekommen, legte er seine Hand auf das Geländer. Die Stufen hatte er bereits gezählt. Tip, tap, eine nach der anderen. Starke Linkskurve und weiter. Tip, tap, bis in den 2. Stock. Im Grunde ist es kinderleicht. Ab einem gewissen Alter.

 

© Ulrich P. Hinz

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