Gedankenschleuder (08.03.2022)

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08.03.2022

Ich habe meinen Nachbarn in China gesehen. Auf einer der Leinwände, die in den U-Bahnen wie ein Kino stehen. Ein Bild. Seine Adresse. Sein Geburtsdatum. Ein schlimmes Bild. Wie eines der Terroristenfotos damals in den 70ern. Die überall in den Postämtern und so hingen. Böse Menschen. Ganz schlimm. Und heute laufen diese Bilder in den U-Bahnen und Co. Das ist dann schick. Da macht man sich was ganz Grosses fertig. Das Bild von meinem Nachbarn machte mir angst. Aber das ist OK. Er ist auch kein guter Mensch. Er ist zwar ein netter Kerl. Aber bestimmt kein guter Mensch. Sonst würde er da nicht auf der Leinwand laufen. Er hat bestimmt gestohlen. Oder Zigaretten geraucht. Heimlich in den Baustellen. So wie wir das früher als Kinder auch gemacht haben. Aber nun läuft er da auf der Leinwand. In Dauerschleife. Mit ganz vielen anderen bösen Menschen. Das ist gut, dass wir zu den Guten gehören. Man stelle sich das vor. Ich würde auch über diese Leinwand laufen. Mit Adresse und Geburtsdatum. Mit meinem schönen Gesicht, dass auf Terrorist gemacht ist. Und das könnte ich nicht ertragen. Sollte ich mich in China auf einer dieser Leinwände entdecken, werde ich mich gleich vor die nächste Bahn werfen. Das ist vermutlich ein Grund, warum diese Bilder dort laufen. Aber das bleibt Spekulation. Die rote Zahl neben der hässlichen Fratze meines Nachbarn ist hoch. Sie ist rot und negativ. 4476. Man weiß nicht, was das heißt. Aber seine Schandtaten müssen gewaltig sein. Das zeigt sich ja auch in diesem widerlichen Gesicht. Eine ganz typische Verbrechervisage. Alles hat hier seine Ordnung. Und das ist gut. Das gibt Sinn. Unseren Sinn. Und die Leinwände werden größer. Sie sind mittlerweile nicht nur in den chinesischen U-Bahnstationen zu finden. Es weitet sich aus. Überall in der ganzen Stadt sieht man sie. Und mein böser Nachbar ist mittendrin. Statt nur dabei. Wir konnten ihn eigentlich noch nie leiden. Die ganzen Feiern, auf denen wir zusammen gesungen haben, waren falsch. Eine beschissene Fälschung. Vielleicht läuft er deswegen über diese Leinwände. Weil er eine Fälschung ist. Oder falsch. Seine ganze Familie wird das wissen. Sie werden es spüren. Man wird einen Bogen um sie machen. Sie ächten und mobben. Diese Form des Mobbings ist neu. Man wird sie feiern. Immerhin ist sie staatlich verordnet. Und das ist gut. Das ist sehr gut. Wir können uns sicher sein. Zu hundert Prozent. Sollten wir mal in die Landschaft pissen, im Suff gegen ein Haus oder einen Baum. In einen Rosenbusch vielleicht. Dann könnte es uns so gehen, wie unserem Nachbarn. Deutschland ist wieder sauber. Das alleine zählt. Und die üblen Subjekte, die über diese Leinwände laufen zu tausenden, die werden es bitter bereuen. Man wird ihnen schon zeigen, was sich hier gehört. Und was nicht. Eines Tages werden sie dann vielleicht verschwinden. Aber das geht uns nichts an. Das ging es noch nie. Und wir haben dann jedenfalls unsere Ruhe. Und das ist gut. Dann sind wir sicher. Zu 100 Prozent. Und das wollen wir. Dafür sind wir hier. Sicherheit über alles. Man kann darüber denken, was man will. Nur muss es der richtige Gedanke sein. Sonst landet man auf der Leinwand. Das geht schneller, als man in die Beete pinkeln kann. Und auch die ganzen anderen üblen Subjekte. Es ist wunderbar. Ich liebe es. Wie konnten wir solange ohne diese ganzen Sachen leben? Ich kann mich nicht verstehen. Aber ich feiere. Ich feier das ohne Ende. Und wenn ich mich irgendwann auf der Leinwand entdecke, springe ich. Da brauchte es dann auch keine Rente. Und das wiederum ist doch gut. Ist solidarisch. Erspart uns viel Mühe und Ärger. Das beste, was uns je passieren konnte. Diese ganze Angelegenheit ist auf höchster Ebene entschieden worden. Und daher muss es absolut richtig sein. Das kann man sagen. Muss man sagen. Die Leinwand ist sonst ein mögliches Ziel. Ohne große Verhandlungen. Da braucht es keinen Prozess wie bei Kafka. Das geht heute alles digital und schneller, als man gucken kann. Das ist doch wunderbar. Die perfekte Gesellschaft. Brav und einerlei. Der Rest wird zu Leinwandstars. Und dann können sie einpacken. Und das hält uns sicher. Damit ist der Böse und das Böse auf jeden Fall im Griff. Es ist besiegt. Wir sind die Guten. Und sicher. Was kann es Besseres geben. Ich kann es mir nicht mehr vorstellen. Aber das ist doch wunderbar. 20 Minuten vorbei.

© Ulrich P. Hinz

Foto von Ekaterina Belinskaya

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