Halb Kirche – halb Bordell (Kurzprosa)

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Ein Museum ist ein seltsamer Ort. Heilige Hallen. Halb Kirche – halb Bordell. Es war nach Zwei und nicht sehr voll. Er bezahlte die 8 € Eintritt. Eine Sonderausstellung kostet. Und diese Ausstellung wollte er unbedingt sehen. Der Meister seiner Farben. August Macke. Die Theke in der Eingangshalle war gegenüber dem Rest gut beleuchtet. Poster konnte man kaufen. Kataloge. Mackepostkarten. Sein Blick fiel auf die Dame mit der grünen Jacke. Ein Mann hinter der Theke hatte seine Brille auf Halbmast. Fast auf der Nasenspitze. Schaute klug darüber. Das machen die Intellektuellen heute. Gestatten, Dr. Sowieso. Kunsthistoriker. In dem kleinen, museumseigenen Buchladen tummelte sich ein Interessierter. Die große Wendeltreppe. 21 Stufen zum Himmel. 33 Exponate. Noch fehlte der Mut. Die erste Stufe ist bekanntlich die schwerste. Weil es immer auch die letzte sein wird.

Seine linke Hand griff nach dem Geländer. Er spürte ein leichtes Zittern. Ein flimmerndes Kribbeln in der Magengegend. Kurze Hitzeschübe. Dann der Schuh auf der ersten Stufe. Die linke Hand zog den restlichen Körper nach. Angst, das Geländer würde nicht halten, unbegründet. Step by step … Der Kreisel im Kreisel. Nervosität vor dem ersten Mal. Mit jedem Schritt wurde die Luft dünner. Besteigung eines Achttausenders leichter. Selbst ohne Sauerstoffmaske. Die Sonne schien schwach durch das riesige Fenster im Rücken der Treppe. Er hatte sein Ziel so gut wie erreicht. Der Blick nach unten ging ins Leere. Löste sich auf. Angst, ein Protagonist Tiecks könne die Treppe verfeuern, unbegründet. Stein brennt schwer. Oben angekommen, wurde er von einem Vorraum empfangen. Die geöffnete Flügeltür. Aus Stahl. Ein Schild stand daneben: „Zur Mackeausstellung“. Sein Blick stolperte in den Ausstellungsraum. Fiel auf die gegenüberliegende Wand. Sogleich schlugen die Farben in ihm ein. Der Entfernung zum Trotz. Er schloss kurz die Augen. Holte tief Luft. Und trat ein.

Die Sonne hätte nicht mehr blenden können. Das erste Bild, dem er sich stellte war:

„Rotes Haus“

Erogen: griech. = geschlechtlich reizbar

Körperstellen („erogene Zonen“), deren Berührung, Reizung oder Stimulierung sexuelle Erregung hervorrufen kann“

Das Auge als erogenstes aller Körperstellen. Berührung, Reizung, Stimulierung? Zu schwach. Diese Farben waren Hammerschläge. Explosionen auf seiner Netzhaut. Tiefste Erschütterungen. Seine Knie zitterten wie die eines angeschlagenen Boxers. Der Atem stockte. Das Gehirn benötigt eine gewisse Menge Sauerstoff. Regelmäßig. Ihm schwindelte. Ein älteres Ehepaar studierte den Katalog. Verglich Papier mit Leinwand.

5.1 Und ich sah auf der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, eine Buchrolle; sie war innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln versiegelt. 5.2 Und ich sah: Ein gewaltiger Engel rief mit lauter Stimme: Wer ist würdig, die Buchrolle zu öffnen und ihre Siegel zu lösen?“

Das „rote Haus“ war in ihn eingedrungen. Hatte ganz Besitz ergriffen. Bevor es ihn gehen ließ. Der „sonnige Weg“ entführte ihn bis hin zur „Promenade“.

LSD kommt meist in Form von Papiertrips (Pappen, Tickets) oft mit bunten Comicmotiven oder als Mikrotabletten auf den Markt.“ Macke war LSD. In höchster Dosierung. Er taumelte. Tanzte durch den Raum. „Russisches Ballett“. Mit dem Empfinden von Russischem Roulette.

Als Zarathustra so gesprochen hatte, schrie Einer aus dem Volke: „Wir hörten nun genug von dem Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!““

Und plötzlich stand er vor dem Bild wie vor einem Spiegel. Der „Seiltänzer“. Über den Köpfen einer Stadt. Der blaue Mann im Vordergrund. 1914 A.D. Im Krieg liegt die Welt. Das ältere Ehepaar schaute schüchtern zu ihm rüber. „Leute die sich begegnen“. Er hatte längst das Seil betreten. Ein Lächeln im Gesicht. Seine Arme um Balance bemüht. Traum und Wirklichkeit. Ein Königreich für ein Gedicht.

Narziß wird nur dann sehr alt, wenn er sich selbst niemals erkennt. Sein Kopf glühte. Der Puls dröhnte. Schwankend balancierte er weiter. „Leute am blauen See“. Keine Abkühlung in Sicht. Sein Atem ging schwer. Stimmen um ihn herum. „Vier Mädchen“. Raum mit farbigem Gürtel. Ohne Netz und doppeltem Boden. Betreten auf eigene Gefahr. Die 12. und letzte Runde. Er torkelte zum „Caffe Turco“. Die Beine schwer. Augen geschwollen. Arme müde. Er hatte Durst. Schleppte sich weiter. Sie war ihm unten schon begegnet. Nun stand er hinter ihr. Die „Dame in grüner Jacke“. Im Zentrum besehen allein.

Pollution (lat. polluere, pollutum = besudeln, verunreinigen): Unwillkürlicher Samenerguss eines Mannes während des Schlafens.“

– Gong –

© Ulrich P. Hinz

 

Foto von cottonbro

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