Das Bild am See (Kurzprosa)

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Er sah auf die Uhr. In einer fremden Stadt. Vor dem Dunkelwerden. Endlos zogen die Häuserschluchten. Noch genug Menschen auf den Straßen. Er ging weiter. Ein paar Mädchen sprangen Seil. Sangen irgendwelche Sprüche dabei auf. Er lächelte. Die Hände in den Manteltaschen. Das Licht der Abendsonne spielte an den Häuserwänden. Caspar David Friedrich modern. Ein Bilderbuchklischee. Zwei türkische Frauen mit Burka und Plastiktüten. Buntes Getümmel. Der Gehweg war breit. Breiter, als er es von zuhause gewohnt war. Das Schaufenster einer kleinen Buchhandlung. Viele Titel sagten ihm nichts. Dostojewski. Verbrechen und Strafe. Neue Übersetzung. Als Schuld und Sühne stand es in seinem Bücherschrank. Hermann Hesse. Unter dem Rad. Er kam an eine Kreuzung. Links schien ein Park zu liegen.

Parks im Spätsommer waren ideal. Er ging auf ihn zu. Große Wiesenflächen. Eine Baumallee führte auf einen See. Bänke an den Wegrändern. Er hätte mit mehr Menschen gerechnet. Lief in Richtung See. Ein paar Jogger. Hier und da ein Hundespaziergänger. Alles in allem idyllisch. Als er am See ankam, war er überrascht. Aus der Ferne hatte er kleiner gewirkt. Rund um das Ufer standen Bänke. In guten Abständen. Er sah auf das Wasser. Enten und Schwäne. Wieder ein Klischee. Damit musste man leben. Die herbstliche Verfärbung fing an, sich durchzusetzen. Verspätete Mücken tanzten auf dem Wasser. Die Sonne ließ ihn wieder an Friedrich denken. Aber auch sein Lieblingszitat von Franz Marc kam hoch. „In meinen ungemalten Bildern steckt mein ganzer Lebenswille.“ In einiger Entfernung standen drei Ahornbäume. Sie wurden rot. Auf der Bank davor saß ein alter Mann. Ein brillantes Motiv. Er lief in die Richtung. Prüfte die Umgebung. War mit den Lichtverhältnissen zufrieden. Beschleunigte den Schritt. Der Alte starrte reglos auf das Wasser.

„Guten Abend.“ Der Alte nickte, ohne seinen Blick zu lösen. Er setzte sich neben ihn. Zwei Schwäne landeten auf dem See. Das Wasser spritze. Der Alte roch muffig. Er war dünn. Nicht sehr groß. Für die Jahreszeit zu kalt angezogen.

„Das ist wunderschön. Nicht wahr?“ Der Alte schwieg. Die beiden Schwäne schwammen an ihnen vorüber. Er prüfte noch einmal die Umgebung. Die vorletzte Sonne glitzerte auf dem Wasser. Der Alte hatte seine Hände auf dem Schoß liegen. Über und über mit braunen Flecken bedeckt. Eine Mondlandschaft.

„Ich habe viel zu lange gelebt.“ Sagte der Alte mit Blick auf den See. Die Stimme war sanft. „Kann man wirklich so lange leben, um ein solches Bild nicht zu lieben?“ Der Alte antwortete nicht. Von irgendwo quakte eine Ente. Der letzte prüfende Blick. Er legte den Arm um den Alten. Zog ihn an sich. „Wahre Kunst muss die Welt verändern.“ Er nahm die Automatik aus der Manteltasche. Mit Schalldämpfer. Sah, dass der Alte lächelte. Im Blick auf den See. Drückte die Pistole direkt auf das Herz und schoss. TOC. Der Kopf des Alten fiel nach vorn. Die Waffe rauchte. Er steckte sie zurück in den Mantel. Den Arm noch um den Alten. Sah auf das Wasser. Immer mehr Enten begannen zu rufen. Die letzten Sonnenstrahlen wie bei Van Gogh. Tanzten auf dem See mit den Mücken. Das Konzert der Enten. Er mit dem Alten im Arm. Ein Lächeln auf dem Gesicht. Am Himmel stand die Venus. Aus den Schwänen wurden langsam Silhouetten.

Er nahm seinen Arm zurück. Sah noch einmal auf den Alten. Streichelte ihm über den Kopf und stand auf. Der Alte blieb sitzen. Ein Meisterwerk. Alter Mann mit Herzblut am See.

Er spazierte in Richtung Allee. Blickte noch einmal zurück. Sah den Alten sitzen. Genoss jedes Detail. Hörte die Enten. Und ging weiter. An den Wiesen vorbei. Verließ den Park. Kaum noch Menschen auf den Straßen. Die Buchhandlung hatte geschlossen. Das Schaufenster war beleuchtet. Franz Kafka. Der Prozess. Auch das stand in seinem Bücherschrank. Die Mädchen waren nicht mehr da. Er hörte seine Schritte auf dem Gehweg. Ruhig und gleichmäßig. Die Hände in den Manteltaschen. Trug das Bild in den Abend. Alter Mann mit Herzblut am See. Es war dunkel geworden. Ein Italienisches Restaurant tauchte auf. Sah gemütlich aus. Nicht sehr voll. Ihm gefielen die Farben. Ein Kellner stand an der Kasse und tippte was ein. Der Glaskasten mit der Speisekarte am Eingang. Er sah auf die Uhr. In einer fremden Stadt.


© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Anthony

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