(Busgeschichten und Stadtgeruch)
Noah saß im Bus. Ziemlich leer. Einer von diesen langen Riesen. Mit Gelenk in der Mitte. Sein Platz, zwei Reihen hinter dem Rondell. Am Fenster. In Fahrtrichtung. Die Ziehharmonikalamellen an den Seiten quietschen. In jeder Kurve. Ihm gegenüber saß ein junges Mädchen. Vor dem Gelenk. Gegen die Fahrtrichtung. Nettes Gesicht. Aber leichenblass. Sie starrte sinnlos auf diese runde Scheibe, die sich in den Kurven drehte wie ein Karussell. Ein hübsches Kind. Vielleicht 15 Jahre. Noah sah sie an. Und in dem Moment schoss ein Strahl aus ihrem Mund. Wie ein Drache, der Feuer speit. Sie übergab sich auf das Rondell. Machte eine kurze Pause. Und schickte einen zweiten Schwall hinterher. Dann wischte sie sich mit der Hand den Mund ab und schaute auf die Pfütze aus Erbrochenem. Mit jedem Anfahren und Bremsen wanderte die Kotze in die ein oder andere Richtung. Es begann zu riechen. Die Kleine saß einfach nur da und starrte auf ihren ehemaligen Mageninhalt. Noah sah sich um. Aber die vereinzelten Gestalten waren größtenteils mit ihren Handys beschäftig. Der Geruch ließ einige aufschauen. Mehr kam nicht. Die Kleine lächelte verlegen. Rührte sich aber nicht. Noah dachte an den Busfahrer. Arme Sau. Der darf den Scheiß gleich wegmachen. Oder zumindest eine Reinigungskolonne bestellen. An der nächsten Haltestelle stieg Noah über die Kotze und dann aus.
Die Sonne stand irgendwo am Himmel. Der Gestank aus dem Bus geisterte noch in seiner Nase. Auf dem Bürgersteig war es ähnlich leer wie im Bus. Die Straße schlängelte sich durch die Stadt wie ein Fluss. Ein fetter Wels kam ihm entgegen. Der konnte kaum laufen. Das ganze Gesicht voller Schweiß. Jeder Schritt ein Krieg. Der Mund geöffnet. Ein dünner Bartflaum wucherte an seinen Wangen. Und doch sah Noah das Kind in diesem Gesicht. Ein kleiner Junge am Tag seiner achten Geburtstagsfeier. Kinder lieben das. Torte und Spiele. Kerzen und Geschenke. Und keiner war gekommen. Torte und Spiele. Keiner.
Noah bummelte. Schritt für Schritt zogen die Häuser an ihm vorbei. Ein Schaufenster hielt ihn fest. In der Mitte ein riesiger Spiegel. An den Seiten zwei Kränze auf Ständern. Verwelktes Laub auf dem Boden. Über dem Fenster das Schild. Memento – Bestattungen. Ein schönes Schild.
Noah sah in den Spiegel. Stand davor und erkannte sich kaum. Der Blick aus einer anderen Welt. In eine andere Welt. Losgelöst von Zeit und Raum. Verloren im Hier und Jetzt. Ein Bild, flüchtiger als die Zeit. Und doch da. Bedenke. Gestehe. Stirb. Und der Tod schaute aus den eigenen Augen direkt durch ihn durch. Er atmete schwer. Bedenke. Gestehe. Stirb. Er ließ den Blick sinken. Drehte ab. Lief weiter.
Der Gehweg flimmerte wie eine Fata Morgana. Die warme Luft war so dick, dass Noah das Gefühl hatte, durch Wasser zu laufen. Ein Spaziergang auf dem Mond. Und die Erde torkelte wie ein geschmolzenes Stück Käse auf ihrer Umlaufbahn. Ihr Ziel liegt in 50 Metern auf der rechten Seite. Es kam näher. Parfümerie Tannen. Der Mensch will gut riechen. Will den Leichengeruch, der mit jedem Tag stärker wird, durch schöne Düfte zum Schweigen bringen. Bedenke. Gestehe. Stirb. Sie haben ihr Ziel erreicht.
Das Schaufenster wirkte schlicht. Ein Schwarzweiß-Bild, welches eine schöne Dame mit Hut zeigte, die zur Seite schaute. Einige Flakons. L. Tannen – Düfte seit 1899 stand in weißen Lettern dar. Noah trat ein. Der Laden war nicht besonders groß und erinnerte entfernt an eine alte Apotheke. Eine Dame im dunklen Kostüm kam auf ihn zu.
»Schönen guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja. Ich suche etwas für meine Tante. Sie wird morgen 70.«
»Ah, ein runder Geburtstag. Wie schön. Haben Sie schon eine Vorstellung, was es sein soll? Ein Duft oder vielleicht ein Pflegeprodukt?«
»Ich dachte an ein Parfüm.«
»Sehr gut. Hat sie einen Lieblingsduft?«
»Das weiß ich leider nicht.«
»Was für ein Typ ist ihre Tante?«
Noah dachte nach.
»Wie meinen Sie das? In welcher Beziehung?«
»Nun, wenn es um einen persönlichen Duft geht, spielt alles eine Rolle. Ist sie ein fröhlicher oder ernster Mensch? Ist sie kontaktfreudig oder eher schüchtern? Modern oder konservativ? Ist sie offen für neue Erfahrungen? Mag sie Blumen? Oder Schokolade? Kaffee? Um nur einige Beispiele zu nennen. Sie sehen, es gibt unendlich viele Kriterien, die man in eine solche Entscheidung mit einbeziehen kann.«
Noah zog die Augenbrauen hoch.
»Das wusste ich nicht.«, sagte er verlegen.
Die Dame lächelte.
»Das finden wir schon raus. Nehmen Sie alles, was sie über ihre Tante wissen. Und daraus zaubern wir dann einen Duft, der zu ihr passt.«
Noah überlegte.
»Na ja, sie die Schwester meiner Mutter. Sie hat lange in Berlin gelebt. War dort Sekretärin bei einer großen Firma. Ledig, keine Kinder. Familiengerüchte besagen, dass sie jahrelang eine Affäre mit ihrem Chef gehabt haben soll. Sie ist in der ganzen Welt herumgereist. Seit 5 Jahren pensioniert und seitdem auch wieder hier in der Stadt. Sie sehen, wirklich viel weiß ich nicht über sie. Und dass ich sie gut kenne, kann ich auch nicht behaupten. Können Sie daraus schon etwas machen?«
»Auf jeden Fall. Wenn jemand viel und weit gereist ist, spricht das für eine große Weltoffenheit und Neugier. Sie scheint einen sehr großen, individuellen Drang nach Freiheit zu haben. Dafür spricht die Ehe- und Kinderlosigkeit. Und die Affäre steht für das Geheimnisvolle. Zeigt auf der anderen Seite aber auch eine große Form der Sinnlichkeit und Leidenschaft. Das sind gute Kriterien für ein Parfüm. Und da hätte ich genau das richtige für Sie.«
»Super.«
Sie ging zu dem Regal mit den Frauendüften. Dort nahm sie ein Fläschchen und einen Streifen aus Pappe heraus.
»Das ist eine unserer Hausmarken mit dem Namen ‚In Dubio‘. Mein Urgroßvater hat es im Jahre 1921 kreiert.«
»In dubio pro reo.«, kam aus Noah heraus.
»Richtig. Im Zweifel für den Angeklagten. Nur, dass wir hier nicht vor Gericht stehen.«, sagte sie lachend. »Aber im Zweifel für dieses Parfüm. Wenn man sich nicht ganz sicher ist, was für einen Duft man möchte. Oder jemand, der es als Geschenk kauft und ebenfalls unsicher ist, so wie Sie. ‚In Dubio‘ passt immer. Es ist ein dezenter, nicht aufdringlicher Duft. Und doch lang tragend. Frisch und fruchtig in der Kopfnote. Die Kopfnote ist so etwas wie der erste Eindruck, den ein Parfüm macht. Er ist sehr flüchtig und hält sich nur Minuten, um dann der Herznote Raum zu geben, dem eigentlichen Charakter des Parfüms. Hier haben wir einen leicht rosigen Duft, gemischt mit einigen Gewürzen. Die sogenannte Basisnote, die man als das eigentliche Fundament des Duftes bezeichnen kann, hat einen holzigen Charakter. Hier haben wir Sandelholz mit einem Hauch von Amber.«
Sie sprühte zwei Stöße auf die Pappkarte und wedelte sie durch die Luft. Dann reichte sie Noah die Karte.
»Probieren Sie einmal.«
Noah nahm die Karte und schnupperte. Dann atmete er tief ein.
»Hm, ja, das riecht wirklich sehr gut.«
»Geben Sie dem Duft noch etwas Zeit sich zu entfalten. Bei einem Parfüm ist es ähnlich wie bei einem Wein. Es braucht Zeit zum Atmen, bzw. um sich zu entfalten. Wedeln Sie noch etwas, dann werden Sie es merken.«
Noah wedelte. Der Duft gefiel ihm. Nicht zu aufdringlich und doch präsent.
»Ja, gefällt mir sehr.«
»Jeder Körper verleiht dem Parfüm natürlich noch eine ganz persönliche Note. Ein individuelles Bouquette, wenn Sie so wollen. Können Sie sich diesen Duft an Ihrer Tante vorstellen?«
»Ja, das kann ich.«, sagte Noah schnuppernd.
»Na dann wären wir doch fündig geworden.«, sagte sie und lächelte.
»Auf jeden Fall. Ich nehm es.«
»Das freut mich. Eine gute Entscheidung.«
»Was kostet es?«
»Der 50ml Flakon liegt bei 49,95 €.«
»OK. Könnten Sie es bitte als Geschenk einpacken?«
»Selbstverständlich. Schauen Sie sich gerne noch etwas um.«
»Danke.«
Noah schaute. Ein Dschungel aus Fläschchen, Flakons, Lotionen, Schminke aller Art. Regale und Tische, gefüllt mit bunten, gut riechenden Träumen. Eine Welt, die ihm fremd war. Die Dame kehrte zurück.
»So, hier haben wir es. Bitte schön.«
»Vielen Dank. Das sieht sehr gut aus.«
Sie lächelte.
»Das freut mich. Kommen Sie bitte mit zur Kasse.«
Sie nahm eine schwarz glänzende Papiertasche, die mit dem Schriftzug ‚Tannen‘ bedruckt war und legte das Parfüm rein.
»Ich packe Ihnen auch noch ein paar Duftproben mit ein. Vielleicht ist ja etwas für Sie dabei.«
»Das ist sehr nett. Vielen Dank.«
Er gab ihr einen 50-Euro-Schein. Sie tippte ein paar Tasten auf der Kasse und ein Bon kam zum Vorschein. Den riss sie ab, überreichte ihn Noah zusammen mit einem 5-Cent-Stück und stellte die Tasche vor ihn auf den Tresen.
»So, bitte schön. Ich hoffe sehr, dass Ihrer Tante der Duft gefällt.«
»Vielen Dank. Auch für die tolle Beratung.«
»Sehr gerne. Und ich wünsche Ihnen und Ihrer Tante morgen eine schöne Geburtstagsfeier.«
»Danke.«, sagte Noah und verließ den Laden.
Die Sommerhitze nahm ihn auf. Er hatte es nicht eilig. Fühlte sich gut. Aber mit jedem Schritt kehrte der Geruch der Straße langsam in ihn zurück. Jede Stadt hat ihren ganz eigenen Duft. Und doch blieb, als er an der Bushaltestelle stand, ein Hauch von Zweifel.
© Ulrich P. Hinz