Kapitel 7: Zigeuner, Bauarbeiter und Sterne

(Zigeuner, Bauarbeiter und Sterne)
Im 2. Stock sah es genauso aus wie im 6. Bautechnisch gesprochen. Individualität kommt von innen, wird nur durch außen immer wieder unterwandert. Der Aufzug zeigte seine geschlossene blaue Pforte. Er ruhte in der scheinbaren Mitte eines jeden Stockwerkes. Kommt man vom Treppenflur in einen dieser Unterflure, hier der 2. Stock, schaut man als erstes auf dieses Meisterwerk der Technik, der wie ein Gekreuzigter seine Arme ausstreckt und die Wohnungen zur rechten und linken verteilt wie ein Versprechen. Ein Duft von Räucherstäbchen schlich in Noahs Nase. Er drückte sich nach rechts. 1. Tür auf der rechten Seite. Genau wie seine Eigene, nur in einem anderen Stock. Nur mit einem anderen Namen. Madame Tèbrise. Das stand sogar auf dem Klingelschild. Er drückte den Knopf und die Melodie eines Windspiels erklang. Individualität versteckt sich gerne hinter lustigen Klischees. Sesam öffne dich. Und tatsächlich, die Tür ging auf.
»Noah mein Liebling, komm herein.«
Colette Tèbrise, eine französische Schönheit in ihren vierzigern. Berufskleidung ist eine wichtige Sache. Während der Bauarbeiter mit Helm, Warnweste, Blaumann und festem Schuhwerk seinem Ideal sehr nahekommt, würde das Outfit bei einem Arzt vermutlich eher befremdlich wirken. Alles in allem Klischees, die funktionieren. Und Madame Tèbrise war die Königin aller Klischees. Sie steckte in den Klamotten einer Zigeunerin, die schon seit hunderten von Jahren großes Aufsehen erregen. Genau wie ihre Wohnung, die detailgetreu dem Inneren eines freiheitsliebenden Zigeunerwohnwagens, der von zwei alten, braven Pferden gezogen wird, nachempfunden war. Gute Klischees sind eine Frage des Stils. Und den hatte sie unverkennbar. Selbst, wenn sich über Geschmack natürlich streiten lässt. Ab einem gewissen Punkt hört die Freundschaft aber bekanntlich auf. Und das gilt oftmals fälschlicherweise als die Geburtsstunde der Individualität. Auch wenn es sich dabei lediglich um vereinzelte Wehen handelt. Das kleine Hebammeneinmaleins.
An dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers, der mit einer fransigen Decke belegt war wie eine Pizza XXL, standen zwei antik aussehende, nett gepolsterte Stühle. Die Gardinen waren zugezogen. Links thronte ein altes, mächtiges Sofa mit rotem Stoffbezug und schwarzem Knochengerüst. Daneben das Terrarium. Ein Sternenhimmel klebte wie ein Fresko an die Decke. Der Boden war nahezu mit Teppichen überflutet. Sie hingen auch an den Wänden. Ein paar irritierende alte Gemälde waren im ganzen Zimmer verstreut. Landschaften und Gesichter aus einer Zeit, die man sich kaum noch vorstellen kann. Bunte Lichterketten wie zufällig verteilt, erinnerten an ein Cockpit bei Nacht. Die Augen brauchten immer ein wenig, um sich an Colettes Universum zu gewöhnen. Menschen, die lange in einer Höhle gelebt haben und die plötzlich mit der Sonne konfrontiert werden, können das nachvollziehen. In einer Ecke brannten drei Räucherstäbchen.
»Setz dich Cherie.«
Noah schaute in das Terrarium.
»Wo ist Kassiopeia?«
»Ach, sie wird unterwegs sein.« Bei einer Schildkröte, die Kassiopeia heißt, musste Noah immer an Momo denken. Graue Herren mit dicken Zigarren, die die Zeit stehlen. Eines seiner Lieblingsbücher.
»Setzt dich Noah. Was darf es heute sein. Die Sterne, Tarot, Handübertragung, Geisterbeschwörung?« Sie lächelte. Noah setzte sich. Auf der Mitte des Tisches stand eine Kerze.
»Ich weiß nicht genau.«
Colette nahm ihren Laptop, der in diesem Ambiente zwangsläufig wie ein Anachronismus wirken musste. Sie stellte ihn auf den Tisch, nahm Platz und fingerte dann auf der Tastatur rum.
»Ah, hier haben wir dich. Noah. Der süße, kleine Goldfisch. Sogar im Aszendenten bist du ein Fisch. Sehr faszinierende Konstellation. Aber das wissen wir ja schon.«
»Ja, die kleine Sardine Noah auf ihrem Weg in das nächste, mit Zähnen bewaffnete Maul eines, was auch immer.«
»Noah mein Süßer. Du bist keine Sardine. Du bist ein Goldfisch. Ein Mensch mit einer goldenen Seele.«
»Seele ist doch Firlefanz.« Sie grinste.
»Ach, ihr Fische seid schon eine lustige Laune des großen Geistes.«
»Na klar, er will ja schließlich was zu lachen haben, der große Geist.«
»Möglich. Aber er lacht immer mit uns. Niemals über uns. Das solltest du, wie sagt man, ah, im Hinterkopf behalten. So ist das nämlich mit allem. Verstehst du?«
»Ich weiß nicht.«
»Sehr gut. Denk darüber nach.« Sie tippte wieder auf dem Laptop rum. Das Geräusch der Tastatur klang angenehm weich.
»In den Sternen zeigen sich augenblicklich gewisse Turbolenzen. So wie ein Sturm auf hoher See.«
»War ich jemals bei dir, ohne gewisse Turbolenzen?«
»Schon, aber diese hier sind anders. Sie scheinen gefährlich. Vielleicht sogar lebensgefährlich.«
»Mag sein. Aber das hab ich im Griff.«
»Bist du dir sicher?«
»Ganz sicher.«
»Also schön. Auf diesem Kurs solltest du bleiben. Dann ist ein Hafen bald schon in Sicht. So wird es sein.« Sie klappte das Laptop zu und legte es neben sich auf den Boden.
»Gib mir deine Hände, Cherie.« Sie schob ihre Arme an der Kerze vorbei. »Gib sie mir und schließe deine Augen.« Noah legte seine Hände in ihre. Sie waren warm und weich. Und irgend ein angenehmer Duft stieg in seine Nase. Er knipste die Augen zu. Blinzelte noch einmal kurz, aber als er sah, dass auch Colette ihre Augen geschlossen hatte, wurde es dunkel. Wobei es natürlich immer eine gewisse Zeit dauert, bis sich das Restlicht in den Augäpfeln auflöst. Weiße Punkte, Landschaften, Bilder und geometrische Formen aller Art tanzen noch lange in den Spiegelsälen der Augen weiter. Eine wirkliche Dunkelheit ist heutzutage ohne Hilfsmittel kaum noch möglich.
Ganz leise, kaum wahrnehmbar hörte Noah ein Meeresrauschen und eine noch leisere Musik. Das Meer und die Musik haben mehr gemeinsam, als man für gewöhnlich glaubt. Genau wie die Sterne. Und wenn Colette sonst immer etwas von Luft- und Wasserzeichen und so einem Zeug erzählte, in diesem Moment vermischten sich die Begriffe. Die Geschichten, die uns das Meeresrauschen erzählt, sind fast so alt wie das Meer selbst. Und sie bringen etwas in uns zum schwingen, etwas, das tiefer geht als das meiste. Wie eine große, uralte Wunde, die sich endlich wieder schließt. Oder eine noch viel größere Wunde, die gerade frisch von einem Hai gerissen wird. Evolution sollte man niemals unterschätzen. Schon gar nicht sollte man ihr über den Weg trauen.
»Ich sehe ein Fenster. Ein offenes Fenster. Ein Baby schreit. Und Noah, du bist dieses Baby. Du liegst in einem Puppenbett und dicke Puppentränen kullern aus deinen Augen. Schsch… alles ist gut, kleiner Noah. Alles ist gut.« Noah schluckte und das Schluckgeräusch verteilte sich wie ein Echo im ganzen Kopf. Bergsteiger kennen solche Phänomene. Selbst in der griechischen Mythologie hatte man davon gehört. Die Tatsache, dass man mit Schallwellen sogar töten kann, ist allerdings moderner.
»Warte, ich sehe einen tanzenden Notenschlüssel. Aber es ist, äh, diffus. Oh, jetzt hat er sich ein ein Tier verwandelt. Ich kann aber nicht genau erkennen, was für ein Tier, aber es gibt dir ein Fläschchen. Und da steht etwas drauf. Moment, ich sehe Worte. Sie leuchten und schweben nach oben. Immer wieder. Wie so außen innen. Außen innen so wie. Jetzt hab ich’s. Wie innen so außen. Und du hast aufgehört, zu weinen. Das ist wundervoll.«
Wunder, das, Substantiv, Neutrum. Bedeutung universell. Herkunft: mittelhochdeutsch wunder, althochdeutsch wuntar, Herkunft ungeklärt. Dudenwahrsagerei.
»Jetzt verschwimmt es langsam. Die Leinwand wird wieder schwarz. Ich glaube, es ist alles.« Das Meer rauschte und die Musik flüsterte. »Wie fühlst du dich?«
Noah kehrte langsam zurück.
»Ich weiß nicht. Irgendwie leicht und schwer zugleich.«
»Das ist gut. So wird es sein. Du kannst deine Augen wieder aufmachen, wenn du möchtest.«
Noah fühlte eine Berührung an seinem Fuß. Er öffnete die Augen und sah direkt in die von Colette. Grüne Saphire, dachte er. Klischees tauchen immer zu den ungünstigsten Zeiten auf. Sie lächelte und an seinem Fuß grabbelte es.
»Konnte dir das helfen, Cherie?«
»Das wird sich zeigen.« Er zog die Fransendecke hoch und entdeckte Kassiopeia.
»Ah, hier steckst du.« Er hob sie auf und setzte sie auf den Tisch.
»Ja, sie ist ein kleiner Herumtreiber. Sagt man das so?« Noah grinste.
»War es vielleicht ein Igel?«
»Wie?«
»Ich meine, das Tier, das du geshen hast?«
»Mag sein. Vermutlich werden wir es nie erfahren. Aber das Wichtigste ist die Botschaft. Wie innen so außen. Darüber solltest du nachdenken.«
»Mach ich.« Er zog den Zehner aus der Tasche und legte ihn auf Kassiopeias Panzer. Wo er natürlich sofort wieder runterrutschte. Colette lachte.
»Ach, mein kleiner Goldfisch.« Noah lächelte.
»Besser als eine Sardine. Ich danke dir Colette.«
»Jederzeit Cherie. Ruf einfach an. Wo ich wohne, weißt du ja.«
»So wird es sein.«

 

© Ulrich P. Hinz

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