Kapitel 8: Traumkönig, Wälder und Glückskekse

(Traumkönig, Wälder und Glückskekse)
In der Nacht hatte Noah zwei Träume. Er lief durch einen Wald. Sich in einem Archetypus zu verlaufen, ist nicht ungefährlich. Und ohne das richtige Kartenmaterial ist man eigentlich ziemlich am Arsch. Zum Glück konnte Noah sowieso keine Karten lesen. Es war fast dunkel. Aber der Mond hing wie eine gefälschte Energiesparlampe an der Decke und brachte wenigstens etwas Licht. Diese Energiesparteile sollen ja ziemlicher Müll sein. Als Physiker sieht man das natürlich differenzierter.
Er trat in irgendwas Spitzes. Hast du deine Schuhe vergessen, kleiner Noah? Der Wald lachte. Die Blätter applaudierten. Dafür gibt es bestimmt eine ganz natürliche Erklärung. Wenn man in einem Traum erkennt, dass man träumt, hat man Möglichkeiten. Luzides Träumen ist das Stichwort. Noah erkannte nichts. Er drehte sich vielmehr um die eigene Achse. Einmal, zweimal, tanz kleiner Kreisel, tanz. Die Blätter unter seinen Füßen raschelten im Takt der Schritte. Ja, auch wenn man sich im Kreis dreht, macht man Schritte. So etwas lernt man in jeder guten Tanzschule. Zugegeben, die Entfernung, die man hinter sich lässt, ist überschaubar. Aber manchmal ist es sinnvoll, sich erst einmal einen Überblick über die allgemeine Lage zu verschaffen. Du musst deine Richtung ändern, kleiner Noah. Diese warme, weiche, wohltemperierte Stimme klang so ungemein verführerisch. Ich muss einen Scheiß. Ändere deine Richtung, kleiner Noah. Ändere sie. Aber welche ist die Richtige? Jede andere. Oder willst du dich bis morgen früh im Kreis drehen? Der Wald lachte und die Blätter kicherten. Noah starrte in ein tiefes Meer aus Bäumen. Dann drehte er noch einmal hart Steuerbord und lief los. Er hangelte sich von einem Baum zum nächsten, als plötzlich aus der Ferne eine vertraute Musik herüberschwappte. Mit jedem Schritt wurde es deutlicher. Bis es nicht mehr zu leugnen war. Michael Jacksons Thriller. Der Wald grinste und die Blätter jubelten.
Wenn ein König in einem Traum auftaucht, ist er dann der König des Traums oder bloß ein Traumkönig? King of Pop Forever. Die Songauswahl versprach allerdings nichts Gutes.
Folge der Musik, kleiner Noah. Ja, sicher. Hast du jemals das Thriller-Video gesehen? In voller Länge? Der Wald rülpste und die Blätter schmatzten. Popcorn im Kino ist obligatorisch. Monster sind fakultativ. Du hast Angst, kleiner Noah.
Angst, die, Substantiv, feminin. Bedeutung: Schiss inne Buchs. Herkunft: Mittelhochdeutsch angest, althochdeutsch angust, eigentlich = Enge, verwandt mit eng. Der Horror des Dudens.
Wenn du Angst hast, kannst du singen, kleiner Noah. Die Musik ist schon da, den Song kennst du, also los. Und in einem Musical hätte das auch bestimmt funktioniert. Aber ein Traum ist kein Musical. Wobei es durchaus Musicalträume geben mag, aber der hier nicht. Thriller in Dauerschleife. Beim ersten Hören findet man es super. Der ganze Körper wird gepackt, geschüttelt, nicht gerührt. Spätestens ab dem vierten Mal ist es anstrengend. Dann nur noch nervig.
Am Horizont Nordnordost sah Noah plötzlich Licht. Eine ganze Stadt aus Licht, die wie aus dem Nichts auftauchte. Er stoppte. Halt die Fresse Michael. Aber jeder, der Michael Jackson kennt, weiß, dass das so nicht funktioniert. Noah machte einen Schritt. Noch einen. Alle guten Dinge sind drei. Und schon stand er direkt vor einem riesigen, stählernen Gartentor. Da soll noch einer sagen, Aberglauben sei Schwachsinn. Ein eingezäunter Rummelplatz. Was für ein Spaß. Über dem Tor leuchtete in bunten, tanzenden Glühbirnen, die keine Energiesparbirnen waren, der Schriftzug »Himmel und Hölle«.
Öffne das Tor, kleiner Noah. Er drückte die mächtige Klinke herunter. Es ist verschlossen. Der Schlüssel ist in dir, kleiner Noah. Hör verdammt noch mal damit auf, mich ständig kleiner Noah zu nennen. Der Wald lachte und das Lachen mischte sich mit dem Lachen des Thrillers. Was für eine kranke Scheiße. Der Schlüssel ist in mir. Er sah an sich runter. Und bei Licht betrachtet erkannte er, dass er nackt war. Splitterfasernackt wie ein Flitzer. Dreh dich nicht um … Muss Tor öffnen. Öffnen Tor muss. Ich, mich, brich. »Sesam öffne dich.« Und mit einem dumpfen Klacken sprang es auf. Das war ja leicht. Die meisten Gartentore öffnen bekanntlich nach innen. Das ist zwar historisch nicht belegt, aber dafür öffnete dieses hier nach außen. Aus reiner Bosheit. Auch wenn es letztendlich eine Frage des Standpunktes bleibt.
Noah zog an der Klinke. Das Tor ächzte und quietschte standesgemäß. Manche Klischees passen einfach immer. Er ging ein paar Schritte auf eine Schießbude zu. Daneben stand eine Bude mit Süßkram. Daneben ein paar Verkaufsstände. Und so weiter. Was man auf einem Rummel halt alles so findet. Karussells und Attraktionen. Riesenrad und Achterbahn. Alles außer Menschen. Hier war niemand. Und doch leuchtete und blinkte es an allen Ecken und Kanten. Der gute Michael trillerte sich den Wolf. Nicht nur bei der Geisterbahn. Auf dem gesamten Gelände und weit darüber hinaus. Sonst wären wir überhaupt nicht hier gelandet.
Noah nahm sich eine Zuckerwatte. Sie hing in einem Rudel an der Süßkrambude. Plastik verschweißte Kariesfreude. Und nach kurzem Verpackungskampf war sie frei. Da er keinen Mülleimer entdeckte, legte er die Folie auf den Budentresen, zupfte ein Stück Watte ab und schob es in seinen Mund. Es knirschte und klebte. Klebte und knirschte. Kinder lieben das. Er sah sich um. Hart Backbord und los. Nackte Füße auf einem mit Blätter und Moos bedeckten Waldboden. Nach links führte ein breiter Weg. Noah folgte ihm. Seine Zuckerwatte hing nur noch in kleinen Restfetzen an dem Holzstäbchen. Er zog es einmal quer durch den Mund und warf es auf den Boden. Aus Bäumen bist du genommen. Zu den Bäumen kehrst du zurück. Der Thriller lachte.
Rechts tauchte eine große Attraktion auf. Eine weiße, glänzende Holzwand, bemalt mit nackten Menschen, die sich orgiastisch und hemmungslos in den wildesten Farben über einander hermachten. Über der Wand thronte ein Schild. In roten Lettern, von bunten, blinkenden Lämpchen eingerahmt stand da: »Paradies der Lust und Leidenschaft«. Vor der Wand verlief ein metallener Steg, wie man ihn schon auf vielen Rummelplätzen gesehen hat. Und auf diesem Steg ploppte plötzlich ein Mann im schwarzen Anzug auf. Er hatte ein Mikrophon in der Hand und sein Lächeln war rekordverdächtig.
»Damen und Herren, treten sie näher. Seien sie dabei. Im Paradies der Lust und Leidenschaft. Hier erfüllt sich jeder Wunsch. Nichts, dass es nicht gibt. Nichts, das sie sich nicht vorstellen können. Alles, was sie immer schon wollten. Hier werden sie finden. Hier dürfen sie sein. Treten sie näher, treten sie ein. Damen und Herren. Der Eintritt heute kostet nur eine Ewigkeit.« Er verschoss sein letztes Lächeln auf Noah und zerplatzte wie eine Seifenblase. Der Typ erinnerte entfernt an einen berühmten Politiker. Noah war dezent irritiert. Seine Augen scannten die nackten Körper. Eine der Frauen sieht ein bisschen aus wie Colette. Die da könnte Judy sein. Alles in allem weit hergeholt.
Von hinten hörte er plötzlich etwas Schnauben. Er drehte sich um. Auf der anderen Seite stand ein Ponyrondell. Kinder lieben Ponys. Und mit jedem Schritt wurde der Geruch nach Pferden stärker. Eine Welt ohne Pferde ist eine traurige Welt. Und traurige Pferde in einer Rummelwelt sind ein starkes Klischee. Sie standen im Kreis. Kopf an Arsch mit vielleicht einem halben Meter Abstand. An einander gebunden. Und sie schliefen. Alle bis auf eins. Ein Schecke, der Noah mit funkelnden Augen ansah. Wie hieß gleich noch die Serie mit dem sprechenden Pferd? Sind das Tränen, kleiner Freund? Aber das Pony glotzte bloß. Das war’s. Nur ein trauriger Blick ohne Worte. Willst du frei sein, kleiner Freund? Ich werde dich befreien. Ich werde euch alle befreien. In diesem Moment liefen sie los. Schlafend. Ruhig. Im Kreis. Einen Schritt nach dem anderen. Und jeder Einzelne zählt. Als das Gescheckte an Noah vorbeikam, sah es ihn nicht an. Auch nicht beim zweiten und dritten Mal. Schlaf gut, kleiner Freund, und träum was Schönes. Noah ließ die Ponys hinter sich.
Der Waldweg zog ihn. Rummel soweit das Auge reichte. Er kam zu einem orientalischen Palast. 1000 und eine Nacht direkt vor Augen. Ein gemalter Scheich streckte seine geöffneten Arme entgegen.
Auf dem Schild stand »Palast des Midas«. Und am Eingangstor ploppte unser Freund mit dem stahlharten Lächeln wieder auf.
»Damen und Herren, hier werden sie reich. Kommen sie näher. Treten sie ein. Im Palast des Midas warten unerschöpfliche Schätze. Gold und Juwelen. Smaragde und Perlen. Diamanten und Rubine. Ein Sechser im Lotto mit Superzahl. Alles, was die Bank begehrt. Hier werden sie finden. Hier dürfen sie sein. Damen und Herren, heute zum absoluten Sonderpreis. Für nur eine Ewigkeit sind sie dabei.«
Sagte es und zerplatzte mit dem breitesten Lächeln der Welt. Noah hatte Durst. Es gibt Menschen, die behaupten, dass wenn man im Traum Durst hat, hat man wirklich Durst. Traum hin oder her. Noah war das egal. Er lief zu einer Eisbude. Auf dem Glastresen standen ein paar Dosen mit Softdrinks. Das volle Programm. Er nahm sich eine Sprite, riss sie auf und setzte an. Schlucken, schlucken, was für eine süße Brühe. Zuckerwatte und Softdrinks. Das Rummelplatzleben ist süß. Einsteigen. Dabei sein. Da soll noch einer behaupten, Rummel schade der Gesundheit. In einem Woody-Allen-Film hatten Wissenschaftler herausgefunden, dass nur Kuchen, Torte und alles Süße überhaupt die einzig wahre Ernährungsform ist. Damit werden sie 100 Jahre und mehr. Kinder lieben das.
Noah zog weiter. Südsüdost tauchte eine kleine Kirche auf. Vollbepackt mit blitzenden, blinkenden Lämpchen, wie eine Hochzeitskapelle in Las Vegas. Über einer gläsernen Drehtür hing das Schild. »Drei Kreuzigungen täglich.« Noah stutze. Eine Drehtür? Er versuchte, innen irgendetwas zu erkennen. Aber an dem Glas der Türen tanzten so viele bunte Lichter, die wie tausend Pfeile gleichzeitig in seine Augen schossen und er gar nichts erkannte.
Er schaute noch einmal auf das Schild. Da stand nichts von Eintritt und Ewigkeit. Also drückte er gegen die Scheibe der Tür, wo seine klebrigen Finger ein paar saftige Abdrücke hinterließen. Physikalisch war der Kraftaufwand nicht wirklich groß, allerdings weit davon entfernt, als klein durchzugehen. Subjektivität ist eine komplizierte Sache. Wie dem auch sei, Noah war drin.
Zwei Reihen Holzbänke, Steinboden, ein Altar in der Mitte, blinkende Lämpchen ohne Ende. Echt nicht groß. Anders das Kreuz neben dem Altar. Es war riesig. In der ersten Reihe links saß jemand. Mit nacktem Oberkörper. Sein Rücken war eine einzige, blutverschmierte Wunde. Tiefe dicke rote Striemen überall sorgfältig verteilt. Das Cap auf dem Kopf sah alles andere als gemütlich aus. Subjektivität hin oder her. Noah näherte sich vorsichtig. Als er die zweite Reihe erreicht hatte, sagte er leise: »Hallo?« Der Rücken rührte sich nicht.
»Vorstellungen sind um 7, um 2 und um 9.«
»Ah, vielen Dank. Wie spät ist es jetzt?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Na ja, ich meine, wenn …«
»Hast du mal ne Kippe?«
»Was?«
»Eine Zigarette.« Noah wollte in seine Taschen greifen. Nackt, schon vergessen, kleiner Noah. Und von irgendwoher lachte es.
»Äh, nein. Ich hab’s mir abgewöhnt.«
»Das ist gut.« Der Rücken bewegte sich keinen Millimeter.
»Was machst du hier?«, fragte Noah.
»Warten.«
»Ah. Und worauf wartest du so, wenn ich fragen darf?« Stille. Eine unglaublich peinliche Stille, die sich mit jedem einzelnen Herzschlag in die Länge zieht. Man kennt solche Situationen. Noah schlich um die erste Bank herum. Stand dann vor ihm. Sah in ein bärtiges Gesicht, das genauso blutverschmiert war, wie der Rücken und der ganze Rest. Noahs Blick rutschte tiefer. Auf ein paar stattliche Brüste. Mindestens Körbchengröße C. So berechnen sie die richtige BH-Größe. Physik Grundseminar. Er konnte sich gut daran erinnern. Und zog einen Luftstrom durch seine Lippen, dass es pfiff. Dann wanderte sein Blick auf den Boden. Überall war Blut. Relativ frisch. Seine Füße waren schon ganz klebrig. Eine gewisse Grundklebrigkeit gehört auf einem guten Rummel selbstverständlich dazu. Noah hob sein rechtes Bein, um unter den Fuß zu schauen. Blutverschmiert. Der Altar, voll mit Blutspritzern. Als er vor dem Kreuz stand, das blutgetränkt war, strömte ein zarter Duft in seine Nase. Es roch irgendwie nach Lebkuchen oder gebrannten Mandeln. Noah schnupperte wie ein Drogenhund auf Turkey. Und ein Lächeln fuhr durch seinen ganzen Körper. Er drehte sich um.
»Auf dem Schild draußen steht, drei Kreuzigungen täglich. Ist das wahr?« Er schaute in dieses müde, bärtige Gesicht, das ihn nicht direkt ansah. Und trotzdem hatte Noah das Gefühl, dass ihm die Augen überallhin folgten. Viele große Meister arbeiteten mit dieser Technik. Leonardo, Michelangelo und wie sie alle hießen. Auch in der Werbung wird es bei Fotos gerne verwendet. Es ist gespenstisch.
»Was ist Wahrheit?« Der Bart hatte sich kaum bewegt, als er das sagte.
»Ich weiß nicht. Aber warum gerade die Kreuzigung? So viel Blut und überhaupt…«
»Brot und Spiele. Ein uralter Hut, der alle Moden überdauert.«
»Ich dachte immer, Brot und Wein.«
»Brot auf Wein, das ist fein.« Der Mund unter dem Bart zuckte.
»Klingt irgendwie nach Glückskeks.« Noah grinste.
»Das ist es auch. Aber wenn man von dieser ganzen Kreuzigungssache einmal absieht, ist alles dabei, um cool zu leben. Die Fixierung auf den Tod ist ein Missverständnis. Absolut überbewertet. Genau wie die Hoffnung, die damit verbunden ist. Denk an Brian. Es geht um das Leben. Ein gutes Leben, ein guter Tod.«
»Schon wieder Glückskeks. Aber was ist ein gutes Leben?«
»Es steht alles geschrieben. Der Rest ist eine Frage der Interpretation und der Auslegung.«
»Und was ist bei einem schlechten Leben? Ein schlechter Tod?«
»Nein, der Tod ist immer gut. Er ist das eigentliche Happy End.«
»Das hab ich irgendwo schon mal gehört. Hm, aber wenn man der ursprünglichen Geschichte glaubt, gibt es doch eigentlich gar keinen Tod. Ich meine, Himmelreich und so.«
»Denk an Augustinus, der gesagt hat, dass die Zeit nicht existiert. Hoffnung ist für die Lebenden. Im Tod braucht man keine mehr. Und du hast wirklich keine Zigarette?«
»Tut mir leid. Aber du meinst tatsächlich, dass Hoffnung in Bezug auf den Tod völlig sinnlos ist?«
»Nicht für die Lebenden.«
»Das ist absurd.«
»Nein, es ist ein Werbegag. Public Relations hält die Welt am Laufen. Du solltest das wissen.«
»Ich halt mich lieber an die Physik.«
»Brot und Spiele. Sie werden mich immer wieder kreuzigen.«
»Na ja, das steht draußen an der Tür.«
»Du weißt, dass ich das nicht meine. Ich aber weiß, dass eine Zeit kommen wird, in der dieser ganze Zirkus vorbei ist. Ein wahrlich goldenes Zeitalter. Hokuspokus. So wird es sein.«
Noah zuckte. Ein mächtiger Glockenklang wummerte durch die ganze Kapelle. Alles vibrierte und Noahs Füße kribbelten. Und das Kribbeln tanzte hoch bis in die Haarspitzen.
»Es ist soweit. Willst du die Show sehen?«
»Ich glaube nicht.«
»Gut. Dann geh in Frieden. Und denk daran, der Glaube erschafft Überzeugung. Und Überzeugungen erschaffen Welten. Und wenn der Weg wirklich dein Ziel ist, kannst du dich niemals verlaufen.«
»OK. Danke.«
Noah ging zurück in Richtung Drehtür. Die Glocke dröhnte zum zweiten Mal. Er drückte die Scheibe, spürte einem leichten Luftzug und stand wieder draußen.
Nach ein paar Schritten, 156 um genau zu sein, tauchte plötzlich das Riesenrad auf. In der Kunst des Versteckspiels ist ein Riesenrad offensichtlich der ungekrönte Meister des Rummels. Das größte Riesenrad der Welt. So stand es in leuchtenden Buchstaben über dem Kassenhäuschen. Noahs Blick ging nach oben. Es war gigantisch. Die runden Gondeln zogen langsam, ruhig und gleichmäßig an Noah vorbei. Eine blaue, eine rote, eine gelbe und so weiter. Und das Beste war, Michael Jackson hielt endlich die Fresse. Ein leises Rauschen und Summen war das einzige, was Noah in diesem Moment wahrnahm. Und das kam vom Riesenrad. Thriller ist selbstverständlich ein großartiges Album. Aber wie heißt es schon bei den alten Römern: Wiederholungen gefallen nicht.
Ein breiter, silberner Steg lag vor dem Riesenrad und 7 Stufen führten direkt zu den Gondeln. Höhenangst in einem Traum ist sinnlos. Wenn man weiß, dass man träumt. Noah setzte einen Fuß auf die erste Stufe. Den anderen auf die zweite. Wieder den ersten auf die dritte. Den anderen auf die vierte. Die alten Römer haben nicht mit allem recht. Aber um es abzukürzen, stand er schließlich direkt vor den Gondlen, die in aller Seelenruhe an ihm vorbei zogen. Abkürzungen im Traum sind eine ziemlich coole Sache. Selbst wenn man nicht weiß, dass man träumt.
Jede Gondel hatte zwei Einstiege. Wobei mindestens einer davon unter falscher Flagge segelte. Sprich, er war ein Ausstieg. Noah ließ ein paar Gondeln vorüber gehen. Eine gelbe. Eine blaue. Eine grüne. Das Riesenrad drehte so langsam, dass man bestimmt gemütlich wie ein Hobo in die Gondeln klettern konnte, zumal die Ein- und Ausstiege offen waren. Er zögerte. Wenn man im Begriff ist, eine große Dummheit zu begehen, kommt irgendwann ganz automatisch der Punkt, wo man merkt, scheiße, jetzt wird’s ernst. Ist das der Ernst des Lebens, wo immer wieder vor gewarnt wird? Wie zur Hölle komm ich hier wieder raus? Und kurze Zeit später, der Point of no Return. Er schnappte sich eine goldene Gondel. Und obwohl die Geschwindigkeit alles andere als hoch war, drückte es ihn auf die Sitzbank.
Es ging aufwärts. Und wenn es auf der einen Seite aufwärts geht, geht es auf der anderen Seite wieder abwärts. Das ist das Prinzip eines Riesenrads. Für Noah keine große Sache. Sein Blick fiel auf die ganzen Buden und Attraktionen, die sie langsam überstiegen. Ein leuchtendes Gewusel von ziemlichen Ausmaßen. Noah hätte nicht damit gerechnet, dass dieser Rummel so groß ist. Und die Gondel hatte noch längst nicht 9 Uhr erreicht. Wenn man etwas von oben betrachtet, wird eine Wahrheit dann größer oder kleiner? Die Oberfläche im inneren der goldenen Gondel war spiegelglatt. Noahs Hand fuhr darüber und es fühlte sich gut an. Klischees fühlen sich immer gut an. Solange, bis man sie erkennt. Erst dann wird es seltsam.
Die dicke Stange in der Mitte der Gondel hatte einen stählernen Teller, etwa in Brusthöhe der Fahrgäste. Um den Rand des Tellers lief eine Art Greifring, wie ein Steuerrad. Die Buden wurden sichtbar kleiner. Kurz vor dem Punkt, wo das Einzelne sich auflöst und eins wird mit dem Ganzen. Ähnlich wie bei einem Flugzeugstart. Vorausgesetzt, man hat einen Fensterplatz erwischt. Noah betrachtete dieses leuchtende Fleckchen Erde. Und ein Gefühl breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Was ist Glück? Seine Hände legten sich um das Steuerrad. Die eine drückte, die andere zog. Und die Gondel begann, sich zu drehen. Einmal im Kreis herum. Die Luft war mild. Der Duft eines Rummels reicht weit. Süße, klare Luft. Kinder lieben das. Noah atmete ruhig und tief. In der Meditation wird das Atmen bekanntlich zur Kunstform erhoben. Das sagen die Gurus jedenfalls. Zumindest behaupten sie es. Noah lächelte auf dieses immer größer werdende leuchtende Etwas herunter, als plötzlich das ganze Licht auf einmal ausgeknipst wurde. Flupp. Von jetzt auf gleich zappenduster und eine Rakete zischte in den Himmel. Noch eine. Und noch eine. Böller und Feuerräder. Bis schließlich der ganze Himmel in Flammen stand. Feuerwerk soweit die Augen blicken konnte. Und Noah mittendrin. Ein Staunen ist nur dann ein richtiges Staunen, wenn der Mund offensteht und das Denken vollständig ausgeschaltet ist. Wie vor wenigen Sekunden das Rummellicht. Und er staunte. Staunte, als würde er dem Mount Everest beim Wachsen zusehen. Tausende tanzender Sterne in allen Farben explodierten um ihn herum. Ein chaotischer Gesang in Licht getaucht. Und die Gondel näherte sich der 12 Uhr. Dem höchsten Punkt. Genau genommen war es fünf vor zwölf, als das Riesenrad langsam begann, sich aufzulösen. Wie ein Nebel, der von der Sonne gekitzelt wird. Und Noah fühlte sich leicht wie eine Feder. Und gleichzeitig schwerer als alles, das jemals Bedeutung hatte. Das Nichts rieselte in das Riesenrad mit einer exponentiell wachsenden Geschwindigkeit. Wie das Wasser seinerzeit in die Titanic. Und die Kapelle spielte bis zum Schluss. Um Punkt 12 Uhr wurde es dunkel. Und Noah fiel. Fiel tief und heftig. Allerdings fühlte es sich fantastisch an, denn er fiel nicht nach unten, sondern geradewegs nach oben. Oder besser gesagt, in eine unbestimmbare Richtung.

© Ulrich P. Hinz

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