Nebel (Descartes muss warten) – (Kurzprosa)

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Wenn es am Mittwoch in den Straßen nach Sonntagsbraten riecht. Die Zeiten waren andere. Er stand auf einem Vorplatz. Die Zeiten werden immer andere sein. In den kleinen Gassen verreckte die letzte Abendsonne. Das war gelogen. Ein Morgennebel hing dicht über der Stadt. Der Sommer war wie eine Illusion durch das dafür vorgesehene Zeitfenster gerutscht. Er hatte ihn verpasst. Sein Wintermantel hing wie ein viel zu schwerer Anachronismus an ihm herunter. Von den Kinoplakaten glotzen die modernen Helden in eine angeraute Novemberwelt. Er sah sich um. Noch nicht viele Menschen unterwegs. Ein paar Autos hier und da. Ihre Lichter griffen mystisch in das Geschehen. Sein Atem dampfte. Der Blick auf die Uhr verriet nichts Gutes. Doch ein solcher Blick zerfällt schneller als erwartet. Gott sei Dank. Von irgendwoher kam ein Backstubengeruch. Zog durch die ganze Straße. Mischte sich mit dem Nebel. Ließ ihn an seinen Magen denken. Der leer war.

Leer und sauer. Aber dafür gab’s Tabletten. Und er nahm reichlich. In allen Farben und Formen. Für Alles und Jedes. Mitte vierzig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man irgendwelche Pillen in sich reinstopfen darf. Obgleich es bei ihm schon mit Anfang 20 begonnen hatte. Aber Krankheiten fragen bekanntlich nicht nach Alter. Trotz allem zündete er sich eine Zigarette an. Vielleicht auch gerade deshalb. Er war sich da nicht sicher. Dachte nicht einmal darüber nach. Das war gelogen. Denn er war ein Denker. Eine Handlung auszuführen, ohne darüber nachzudenken, kam kaum vor. Eigentlich nie. Die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug verschwanden wieder in der Manteltasche. Wenn der Kältedampf und der Zigarettenqualm sich mit einander verbinden, weiß man nie, wann der Zug tatsächlich vorbei ist. Und er stellte sich vor, was wäre, wenn nur noch Rauch aus ihm käme. Bei jedem Atemzug. Bei jedem Wort. Immer käme Rauch aus dem Mund. Wie bei einem Drachen. Aber ein Drache ist ein Fabelwesen. Er war so real, wie seine Vorstellungskraft es zuließ.

Und solche Gedanken wie diese Rauchgedanken, ließen ihn immer wieder an seinem Verstand zweifeln. In ihm steckte noch so viel Kind, dass es nicht gesund sein konnte. Und obwohl er sich darüber im Klaren war, dachte er in solchen Momenten oftmals an Jesus, der davon gesprochen hatte, man solle werden wie die Kinder. Und damit war die Sache dann für ihn meistens erledigt. Selbst wenn er kein Christ im eigentlichen Sinne war. Sprich, von diesem ganzen Auferstehungsmythos und so weiter, hielt er nichts, beziehungsweise, daran glaubte er nicht. Aber auf einer philosophischen Ebene hielt er Jesus für ein Genie. Und es war ihm ein Rätsel, wie man von einer Zigarette über den Qualm zu Jesus kommen konnte. Aber so, wie alle Wege angeblich nach Rom führen, führen unsere kulturellen Wurzeln eben immer wieder zu den ursprünglichen Traumata, die ein Dasein begrenzen. Diese seine kindliche Ironie machte ihm zu schaffen. Aber im Laufe eines Lebens ist es eine gottverdammte Pflicht, sich mit seinen Macken zu arrangieren.

Es wurde langsam heller. So wie die Dinge standen, gab es nur eine sehr begrenzte Anzahl an Möglichkeiten. Allerdings ist jeder Umstand, der mehr als eine Möglichkeit bietet, prinzipiell erst einmal nicht das schlechteste. Dessen war er sich bewusst. Sein Magen knurrte. Der Brötchenduft hatte sich in seinem Gehirn festgesetzt. Und er sah sich, dieses Gehirn wie ein Brötchen aufschneiden. Schüttelte das Bild gleich wieder ab. Warf die Zigarette auf den Boden. Trat sie aus. Ließ die Zigarettenhand in der Manteltasche verschwinden. Ärgerte sich über seine Handschuhe, die zu Hause auf der Kommode lagen. Irgendwann muss man sich damit abfinden, dass der Sommer vorbei ist.

Ein Bus kam. Linie 6. Kaum Menschen drin. Saßen großräumig verteilt. Jeder für sich. Nur zwei in einer Bank redeten. Er wunderte sich, wie hell das Innere eines Busses scheint. Hielt es kurzzeitig für ein Raumschiff, das irgendwo im Weltall durch eine Nebelbank gleitet. Und genau genommen war es das auch. Aus einer anderen Perspektive betrachtet. Das Hineinrutschen in verschiedenste Perspektiven, mögen sie noch so absurd sein, gehört zu den Grundlagen aller Philosophie. Wobei die meisten Menschen hier wohl eher einen schweren psychischen Defekt diagnostizieren würden. Daran hatte sich seit der Antike nicht viel geändert. Die Rücklichter der Linie 6 lösten sich langsam auf. Er hielt sie für die Schlusslichter eines Zuges. Und bekam die Befürchtung, auf einem Bahnsteig zu stehen. Gefangen im Blick auf die Schienen. Wartend. Abreise oder Ankunft. Die Durchsage einer nuschelnden Bahnangestellten. Hunderte von Menschen um einen herum. Aber es war nur der Nebel. Guter alter Nebel. Feind aller Autofahrer. Geburtshelfer der Fantasie.

Er fühlte ein leichtes Ziehen im Rücken. Beugte sich kurz vor. Und wieder zurück. Von irgendwo hallte ein Martinshorn. Freunde Glückauf. Mit dem Hunger konnte er leben. Aber Durst auf Kaffee ist eine schwer zu besiegende Leidenschaft. Daran war er gewöhnt.

Beim Blick nach oben schien es, als hinge noch ein Stück Restmond am Himmel. Doch eigentlich war der Nebel zu dicht. Also schob er es auf eine Hungerfantasie. Wenn man im Mond eine Pizza erkennt, dürfte das schlimmste hinter einem liegen. Egal aus welcher Perspektive. Seine Lippen begannen, leicht zu vibrieren. Die Nase war chronisch verstopft. Und er holte die Luft meistens durch den Mund. So wie man eine Flasche Bier aus dem Keller holt. An wie viele Dinge man sich doch gewöhnt. Im Laufe eines Lebens. Er zog die Nase hoch. So gut es ging. Spielte in der Manteltasche mit dem Feuerzeug. Alle Zivilisation beginnt mit dem Feuer. Dachte er. Und damit endet sie auch. Dachte er.

Ich denke, also bin ich. Hatte Descartes gedacht. Und plötzlich zog ein Duft in diese chronisch verstopfte Nase. Einen Duft, den er nicht kannte. Ein Parfüm. Ein unglaubliches Parfüm. Das selbst in diese verstopfte Nase so heftig einschlug, dass sämtliche Synapsen in seinem Gehirn gleich La Paloma sangen. Er versuchte, die Quelle zu orten. Erwartete das Geräusch von vorübergehenden Stöckelschuhen. Tastete so gut es ging, den Nebel mit der Nase ab. Reckte den Kopf in alle Richtungen. Es roch genial. So fremd. Und dennoch seltsamerweise irgendwie vertraut.

Er konnte nichts erkennen. Sah niemanden. Glaubte an eine Täuschung. Wunderte sich. Horchte tief in die langsam erwachende Stadt. Clare et distincte. Hatte Descartes gesagt. Klar und deutlich. Oberflächlich betrachtet. Darunter war es dunkel. Er merkte, wie der Duft langsam schwächer wurde. Ging ein paar Schritte. Nichts. Die im Gehirn dafür vorgesehenen Erklärungsversuche griffen ins Leere. Und trotz der Kälte fühlte er eine Hitze in sich aufsteigen. Der Griff zu den Zigaretten war vorprogrammiert.

Es begann, leicht zu nieseln. Puderstaubfeiner Regen. Ein heimtückischer Geselle. Denn man merkt erst viel später, wie durchnässt man tatsächlich ist. Die banalsten Wahrheiten sind oft die besten. Dachte er. Der Duft war verschwunden. Bis auf einen kleinen Rest. In seiner Erinnerung. Flüchtig und dünn. Kaum noch vorstellbar. Das ganze machte ihm angst. Hatte ein großes Stück aus seinem Verstand heraus gebissen. Ließ ihn ratlos zurück. Mitten im Nebel. Allein. Und er begann, zu gehen. Ging, wie noch kein Mensch vor ihm gegangen war. Wenn du gehst, dann gehe. Sagen die Buddhisten. Geh mit Gott, aber geh. Sagt der Volksmund.

Er hörte seine Schritte. Spürte jeden einzelnen. Im ganzen Körper. Bis zum Gehirn. Mit leichten Erschütterungen. So ein Gehirn ist ein eigenes Universum. Um das wir kreisen. Quantenmechanisch betrachtet. Jenseits aller Vorstellungskraft. Galaxie im Nebel. Bei leichtem Niesel. Dachte er. Ein Taxi fuhr vorbei. Das zischende Geräusch der Reifen auf nassem Asphalt. Und er vermisste die Sonne. Versuchte, sich an den verlorenen Sommer zu erinnern. Aber mehr noch als die Sonne, fehlte ihm eine gute Tasse Kaffee. Heiß und dampfend. Stark und schwarz. Bezwinger der Müdigkeit. Für einen gewissen Moment. Er hatte Glück. Auf der anderen Straßenseite leuchtet der Schriftzug einer Bäckerei. Dort gab es sicherlich Kaffee. Und dies schien ihm, so wie die Dinge standen, im Augenblick die beste Möglichkeit von allen zu sein. Frei nach Leibnitz. Jenseits der Ironie. Und Descartes muss warten. Das Kind in ihm begann, zu lachen. Lachte laut. Lachte kräftig. Schüttelte sich. Zuhause ist da, wo es Kaffee gibt.


© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Elias Tigiser

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