Zwischen Wahrheit und Infinitiv (Kurzprosa)

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrags-Kategorie:Kurzprosa
  • Lesedauer:6 min Lesezeit

Zwischen Wahrheit und Infinitiv ist die Grenze kleiner als sonst. Jeder, der einmal in einer Irrenanstalt gesessen hat, weiß das vermutlich. Ich kann darüber nur spekulieren. Man vermutet darüber hinaus eine Lücke im System. In Ermangelung besseren Wissens wird mit großzügigen Umstandsprotokollen jegliche Abweichung notiert. Wenn beispielsweise eine Maus in ein Loch fällt, könnte man davon sprechen, dass unter gewissen Voraussetzungen ein Wind wehte. Beim Fallen selbst geht das nicht. Zwar hat die Verletzung der internationalen Denkstrukturen durch die Medien erheblich dazu beigetragen. Doch die Welt ist bekanntlich längst nicht mehr alles, was der Fall ist. Wittgenstein war sich dessen bewusst. Könnte man meinen. Liebste Freundin, Sie werden mir verzeihen, wenn ich so offen über diese Dinge mit Ihnen spreche. Aber ich las erst neulich wieder den Brief des Lord Chandos. Und Sie wissen, wie empfindlich ich auf Pilzgerichte reagiere. Unabhängig vom Wetter, das heute eigentlich nicht schlecht ist. Und als Sie neulich darüber sprachen, dass die Konsistenz von Kaffee mannigfaltig sei, haben Sie mich wie immer darin bestärkt, der Philosophie zu entsagen. Und die Frage, ob man beim Turmbau zu Babel helle oder dunkle Steine verwendete, blieb mir im Gedächtnis. Und seit sie mir das Buch Ionescos schickten, hat meine Stabilität eine grundsätzlich neue Dimension erreicht. Natürlich nur unter der Prämisse, dass es Ionesco um die Wahrheit ging.

Liebste Freundin, Ihr letzter Zug hat mich vor große Schwierigkeiten gestellt. Insbesondere deshalb, weil ich noch immer den Duft Ihres Haares in meiner Erinnerung trage. Weil mir Ihr Lächeln nicht aus dem Kopf geht. Sie können das natürlich nicht wissen. Aber genau aus diesem Grund konnte ich auf Ihre Frage nach der Uhrzeit nicht antworten. Und Sie sagten ganz richtig, dass ich ein Steppenwolf sei. Ja, meinen Hesse habe ich geliebt. Kafka und Ionesco lebe ich. Wie Sie wissen. Es ist eine törichte Tatsache, dass die Literatur mehr ist, als eine Summe ihrer Buchstaben. Nehmen wir beispielsweise Ihren geliebten Nietzsche. Da schleicht die Syphilis doch schon vom ersten Wort durch die Welt. Und er ist sich bis zum Ende treu geblieben. Das muss man ihm zugutehalten. Auch wenn die Schönheit des Zarathustras legendär ist. Vermutlich ahnen Sie es, aber auch ich ertappe mich immer wieder dabei, dass dieser Nietzsche mich begeistert. Und das erschreckt mich auf eine seltsam infantile Weise. Können Sie sich vorstellen, dass ich mich neulich fast vor ein Motorrad geworfen hätte, nur weil der Besitzer es prügelte? Natürlich kann sich das niemand vorstellen. Doch wenn es jemand nachvollziehen kann, dann sind Sie es, beste Freundin. Deshalb sind Sie mir ja so wertvoll. Es gibt wissenschaftliche Meinungen, dass der Infinitiv eigentlich ein Substantiv sei. Und das ist in gewisser Hinsicht ja auch richtig. Aber ich schweife ab. Und das leider nicht weit genug.

Ich mache mir immer noch schwere Vorwürfe, dass ich Ihre himmelblauen Augen in unserem letzten Gespräch unerwähnt ließ. Hege aber die Hoffnung, dass Sie mir verziehen haben. Wobei ich weiß, dass Sie diesbezüglich sehr streng sind. Und das ist auch Ihr gutes Recht. Darum bitte ich Sie nochmals um Entschuldigung. Wir alten Steppenwölfe sind nun einmal so. Und ich weiß, dass Sie sich köstlich darüber amüsieren. Ich mache Ihnen Spaß. Wie die Clowns in der Manege. Und Sie sind meine Artistin auf dem Hochseil. Anders als bei Kafka. So ein Zirkusleben muss herrlich sein. Wenn es nicht so ernst wäre. Ich war lange in keinem Zirkus mehr. Dafür beobachte ich täglich die Dohlen. Aus irgendeinem mir unerklärlichen Grunde beruhigt mich das. Das Lustige ist, die machen es genauso. Setzen sich auf mein Balkongeländer und schauen mich an. Und ich hab das Gefühl, dass sie lachen. Das macht sie Ihnen ähnlich. Und Sie haben ganz Recht, wenn Sie sagen, ich sei ein Anachronismus.

Die Gräfin hat mich neulich besucht. Wir haben auch über Sie gesprochen. Die alte Dame hat eine sehr hohe Meinung von Ihnen. Aber das wissen sie ja. Wie könnten Sie es nicht wissen. Da fällt mir ein, ich war kürzlich auf einer Beerdigung. Und mitten in den schönsten Worten über den Verblichenen fiel der Pastor plötzlich um und war mausetot. Was für eine Inszenierung. Es hat mich nachhaltig beeindruckt. Das hätte kein Ionesco besser schreiben können. Man sagt ja bekanntlich, es sei das Größte für einen Schauspieler, auf der Bühne zu sterben. Das wusste selbst Molière. Auch wenn er zuhause starb. Das Schicksal hatte ihn um ein paar Stunden nur betrogen. Sonst wäre gut gegangen. Wenn man das so sagen kann. Vielleicht waren es auch nur Minuten. Ich war bekanntlich nicht dabei. Kann es also nicht beschwören. Und selbst wenn ich dabei gewesen sein sollte, was niemand wissen kann, bloß weil die Erinnerung daran fehlt, selbst dann meine Liebe, würde ich schweigen. Ganz im Sinne Wittgensteins. „Wovon man nicht“ reden oder „sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Aber wer wüsste dies besser als Sie? Eine große Wittgensteinkennerin. Natürlich kann man sich in solchen Gedanken verlieren. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass ich mit der gedachten Welt besser zurechtkomme, als mit der wirklichen. Und selbst das ist nur Schein. Im Grunde unseres Herzens sind wir beide Romantiker. Sie sind für mich die blaue Blume, während ich dem Taugenichts wie aus dem Gesicht geschnitten bin. Wussten Sie eigentlich, dass ich tatsächlich auf einer Eichendorff-Schule war.

Ja, ich weiß, das sind alles Ausflüchte. Und ich sollte langsam einmal zum Zuge kommen. Das Unausweichliche lässt sich vermutlich nicht aufhalten. Kurz vor dem Ende klammert man sich ja bekanntlich an jeden Strohhalm. Sie sehen, ich treibe mich schon wieder auf Allgemeinplätzen herum. Aber ganz im Vertrauen, das ist doch nur allzu menschlich. Finden Sie nicht? Nun gut. Sagen wir, wie es ist. Es sieht nicht gut aus. Auf meiner Seite. Sie stehen glänzend. Wie ein erhabenes Reiterdenkmal in der Sonne. Ich schaue direkt in eine dreiläufige Schrotflinte. Und selbst das ist noch geschönt. Wenn auch treffend. Im wahrsten Sinne des Wortes. Doch genug der Philosophie. Sie haben lange darauf gewartet. Und dafür schäme ich mich auch. Hoffe aber wiederum, dass Sie mir verzeihen. Also hier liebste Freundin kommt er nun. Ich ziehe meinen König auf A8. Mit dem sicheren „Wissen“ in spätestens fünf Zügen schachmatt zu sein.

© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Brett Jordan

Schreibe einen Kommentar