Wenn du vor dem Spiegel stehst und deine Zähne putzt. Wer denkt schon daran, dass es das letzte Mal sein könnte. Er stellte die Zahnbürste zurück in die Ladestation. Spülte den Mund aus. Spuckte ins Waschbecken. Ließ Wasser nachlaufen. Grinste in den Spiegel. War bereit für den Tag. Sie saß am Frühstückstisch. Mit Blick auf die Küchenuhr. Im Sekundenzeiger. Toc –toc– toc … Der Kaffee hatte die Nacht noch nicht ganz vertrieben. Der Nebel in den Augen zog langsam. Sie nippte an der Tasse. Vereinzelte Traumbilder klopften an. Toc – toc – toc … Mischten sich ein. Übergangsphase Realität. Er steckte den Kopf in die Küche. „Schatz, ich bin dann weg.“ Sie küsste in seine Richtung. Hörte die Wohnungstür in Schloss fallen. Goss Kaffee nach. Nahm einen Löffel Zucker. Rührte ihn ein. Ticker – ticker – ticker …
Der Morgen war grau. Zwischen Regen und Nichtregen. Depressives Wettergewäsch. Sie schaute aus dem Fenster. Auf den Dächern turtelten die Tauben. Sie nahm einen Schluck. Kleckerte auf das Nachthemd. Rieb es ab. Spürte ihre Brüste. Lehnte sich zurück. Und schloss die Augen. Ich bin dann weg. Hatte er gesagt. Wie jeden Morgen. Das Karussell begann sich zu drehen. Weg. Ich bin dann weg. Es tut mir leid. Sie haben das Kind verloren. Weg. Ich bin. Ob sie noch Kinder bekommen können lässt sich nicht sagen. Weg bin ich. Hoher Blutverlust. Trotz allem noch Glück gehabt. Es klingelte. Sie riss die Augen auf. Schlich zur Tür. Hörte unten eine Stimme. „Post!“ Das Klappern der Briefkästen. Dann war es wieder still. In dem kleinen Flur hing ein Spiegel. Sie stellte sich davor. Zog das Nachthemd aus. Betrachtete den Körper. Die weiße Haut. Ihre Brüste. Vertrocknetes Mutterland. Legte die Hände auf den Bauch. Sie waren kalt. Ihr Blick wurde brüchig. Das Glitzern am Beginn einer Träne.
Er saß im Büro. Auf dem Schreibtisch ein Bild von ihr. Aus besseren Tagen. Im Dialog mit dem Monitor. Er feilte an Formulierungen und Zahlen. Hakte Listen ab. Die Mittagspause stand an. Der Griff zum Handy. Schnell noch eine SMS. Tippetappetipp … An die Liebste. Dann stand er auf. Ging in Richtung Toilette. Grüßte Kollegen. Mahlzeit. Öffnete die Tür. Trat ans Waschbecken. Wusch seine Hände. Schaute in den Spiegel. Das Gesicht zeigte Blässe. Die Augenringe lagen im Normbereich. Er schüttelte die Hände aus, drückte den Knopf des Trockners und rieb sie im heißen Luftzug. Ein letzter Blick in den Spiegel. Sein Magen knurrte. In der Kantine gab es heute Lammkotelette.
Sie lag im Bett. Zusammengekauert. In den Kissen vergraben. Irgendwo piepste das Handy. Ihre Augen klappten langsam auf. Die Heizung zählte 25 Rippen. Immer wieder nur 25 Rippen. Voll aufgedreht. Sie fror trotzdem Der Traum war noch frisch. Eine Wiese ohne Ende, auf der ein einziger Baum stand. Sie lief auf ihn zu. Ihre nackten Füße auf dem Gras spürte sie kaum. Jeder Schritt klang dumpf. Wie ein Paukenschlag. Der Baum war nicht sehr groß. Aber voll belaubt. Saftige, grüne Blätter. Das Gefühl, nicht voran zu kommen, täuschte. Schließlich stand sie vor ihm. Müde. Außer Atem. In kaltem Schweiß. Sie betrachtete ihn lange. Die Blätter bewegten sich nicht. Er trug nur eine einzige Frucht. In Reichweite. Einen schwarzen Apfel. Sie griff danach. Wollte ihn gar nicht pflücken. Nur berühren. Aber schon lag er in ihrer Hand. Schwarz wie flüssiger Teer. Wunderschön. Ein schwacher Duft ging von ihm aus. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, woher sie diesen Duft kannte. Ihr Daumen streichelte über seine glatte Schale. Und sie hatte das Gefühl, dass sie lächelte.
Ihre Hand wurde warm. Und immer wärmer. Mit jedem Atemzug. Wurde heiß. Der Apfel begann zu dampfen. Ein Geruch von verbranntem Fleisch stieg in ihre Nase. Sie drehte die Hand. Ließ ihn fallen. Wie in Zeitlupe. Er fiel. Und fiel. Schlug auf dem Gras auf und zerplatze wie eine Christbaumkugel in alle Einzelteile.
Er stieg ins Auto. Es war kühl. Es war dunkel. Und er müde. Der Wagen startete problemlos. Das Radio spielte leise Chopin. Seine Augen waren schwer. Er reihte sich in den Verkehr ein und ließ sich treiben. Zwei Plüschwürfel tanzten am Rückspiegel. Das Klackern des Blinkers beim Spurwechsel. Tack tack – tack tack – tack tack … Es war noch einiges los auf den Straßen Die Heizung kam schnell. Er drehte sie runter. Auf dem Beifahrersitz lag eine Schachtel Zigaretten. Er zündete sich eine an. Nahm einen kräftigen Zug. Ließ den Rauch aus der Nase laufen. Zog nach. An der nächsten Abzweigung fuhr er auf die Landstraße. Der Mond war voll. Wurde aber immer wieder von Wolken zerschnitten. Das Radio spielte Mozart. Bäume schossen am Fenster vorbei. Ein Wildwechselschild sprach von 3,8 km. Er drückte die Zigarette aus. Steckte eine neue an. Er rauchte nur im Wagen.
Das SMS-Signal piepste durch sein Jackett. Er nahm die Zigarette in den Mund und seine Hand tastete sich in die Innentasche des Jacketts. Griff das Handy, zog es raus und löste die Tastensperre. „Eine neue Nachricht.“ Er öffnete sie und las. „Ich dich auch“ Ein Lächeln ging über die Buchstaben. Las sie noch einmal. Wie in Zeitlupe. Mit dem Lächeln legte er das Handy auf den Beifahrersitz. Schaute wieder nach vorne und wurde vom Gegenverkehr stark geblendet.
© Ulrich P. Hinz
25.3.10 12:53
Foto von Tima Miroshnichenko