Stammtischphilosophie in Moll (Kurzprosa)

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Stammtischphilosophie in Moll
(Kunstbuch oder Fischbrötchen)

Seit der Einführung des Euro haben sich die Preise nahezu verdoppelt. Das hat zumindest den Vorteil, dass man nicht mehr umrechnen muss. Er ertappte sich trotzdem dabei, wie er immer noch in die D-Mark-Welt zurückfiel. Aber die war schon lange tot. Trieb abgekühlt durch irgendein anderes Universum. Bei den Alten ist es noch schlimmer. Erzählte ihm neulich so eine Omi, sie habe beim Metzger 12 Mark für Aufschnitt bezahlt.
Er konnte sich genau daran erinnern, wie er das erste Mal danach in den Bäckerladen kam, und die Bäckereifachverkäuferin, so heißt das heute, ihm sagte: „Zwei-Euro-Irgendwas.“ Mit einer Normalität, als sei es nie anders gewesen. Und doch hatte sie dabei seltsam gegrinst. Für die Kinder ist es anders. Die werden schließlich damit groß. Ob das ein Vorteil war, wusste er nicht. Veränderungen jeglicher Art fielen ihm schwer. Und das ist, evolutionstheoretisch betrachtet, natürlich ein Riesennachteil. Wobei er immer wieder sagte, dass die neue Deutsche Rechtschreibung schlimmer sei, als dieser ganze Euroquatsch. Aber bei der zunehmenden Volksverblödung fiel das eigentlich nicht weiter ins Gewicht. Und immerhin schrieben die Politiker das Wort „Bildung“ ja wenigstens auf ihre Wahlplakate. Aber den Politikern glaube er noch weniger als den Priestern.

Seit Deutsche Soldaten wieder bei den Kriegen mitspielen dürfen, hatte er darauf gewartet, dass die ersten fielen. Für die Jungs tat es ihm natürlich leid. Aber um ein Volk mit einer solchen Vergangenheit wie der unseren wieder an Orden und Heldentum zu gewöhnen, müssen eben Opfer gebracht werden. Auch muss man den Regierenden natürlich die Gelegenheit geben, ihren schauspielerischen Fähigkeiten in Betroffenheit und Mitgefühl zu verbessern. Und wer kann schon damit rechnen, dass in einem Krieg, selbst wenn es keiner ist, Soldaten sterben. Sogar Deutsche. Die Welt, in der die Bundeswehr eine reine Verteidigungsarmee ist, war genauso tot wie die der D-Mark.

Er stand in einem Buchladen und blätterte in einem Gedichtband von Celan. Der Laden war riesig. Eine der Buchhändlerinnen schielte zu ihm rüber. Hoffentlich kommt die jetzt nicht mit ihrem kann-ich-ihnen-helfen-Gesülze an. Aber sie lächelte nur. Ein alter Mann saß auf einem der runden Sofas und war in einen dicken Wälzer vertieft. Den sah man hier immer. Gehörte irgendwie schon zum Inventar. Hatte bestimmt den halben Laden im Laden gelesen. Ohne einen Pfennig zu bezahlen. Das machen viele der Alten heute so. Und solange man noch selbst laufen kann, die synaptischen Verbindungen noch halbwegs funktionieren, hat man Möglichkeiten. Zwischen den Mahlzeiten. Und den Arztbesuchen. Aus irgendeinem Grund musste er plötzlich an Krematorien denken. Friedhofskapellen und Blumen. Er ging zum Kaffeeautomaten und zog einen Becher. Setzte sich zu dem Alten auf das Sofa, nippte am Kaffee und studierten den Klappentext. Er liebt Celan. Die Umstände seines Todes blieben rätselhaft. Man vermutet Suizid. Weiter vermutet man den 20. April. Seltsames Datum. Für einen Juden. Nie ganz geklärt. Geschichte faszinierte ihn. Wenn man mit der Gegenwart nichts anfangen kann, bleibt die Vergangenheit. Die Zukunft im Kaffeesatz. Er fragte sich, warum der Alte nicht in eine Bibliothek geht. Vielleicht liegt das hier näher. Vielleicht brauchte er auch einfach nur den Duft frischer Bücher. Der Celan sollte 8,20 € kosten. Der Alte hatte eine dicke Brille auf. Der Kaffee war für einen Euro gar nicht schlecht. Er klappte den Celan zu. Legte ihn auf den Tisch. Leerte den Becher und ging runter ins Erdgeschoss. Zu den günstigen Bildbänden am Eingang. Epochen der Kunst. Von der Höhlenmalerei bis heute. 19,90 €. Auf dem Preisschild war eine 40 mit rotem Filzstift durchgestrichen und die 19,90 übergeschrieben. Der Band gefiel ihm. Aber zwanzig Euro hatte er nicht übrig. Im Jahr der Agenda sind die Zeiten hart. Er blieb an Dalis zerlaufenen Uhren kleben. Draußen strahlte die Sonne durch die Straßen.

Gegenüber stand ein Fischgeschäft. In Gedanken sah er sich in ein Fischbrötchen beißen. In einer Wüste. Mit zerlaufenen Geldscheinen. Ein paar Geier, die ihn umkreisten. Mit grinsenden Politikerköpfen an ihren langen Hälsen. Wenn man mit der Realität nichts mehr anfangen kann, nimmt man das Surreale gerne in Kauf. An der Kasse standen zwei Kassiererinnen. Die waren gut beschäftigt. Und er freute sich, dass es in diesem Land noch Menschen gab, die tatsächlich Geld für Bücher ausgaben. Trotz des Euro. Vielleicht sogar gerade deswegen. Und er überlegte. Kunstbuch oder Fischbrötchen. Die Tatsache, dass er heute erst einen Apfel gegessen hatte, sprach für das Brötchen. Andererseits hatte er sich ja schon den Kaffee gegönnt. Der Celan war für 8,20 € zu haben. Das würde dem Brötchen noch Platz lassen. Kunstbuch oder Fischbrötchen. Der Gedanke gefiel ihm. Hatte was Literarisches. Und er sah sich als Protagonist eines Dostojewskiromans. Gutes altes Mütterchen Russland. Mit dem Unterschied, dass man hier Deutsch sprach. Und dem Dilemma, dass das hier echt war. So echt, wie ein Leben nur sein kann. Was für ein ontologischer Schwachsinn. Er verließ die Buchhandlung. Ging an dem Fischladen vorbei. Nicht ohne einen Blick in die Auslage zu werfen. Die Theke für den Straßenverkauf. Ein junges Mädchen stand dahinter. Lächelte in die Welt. Er lächelte zurück. Im Lächeln liegt die Wahrheit. Zu viel lesen kann der Gesundheit abträglich sein. Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen sie den Klappentext und fragen sie ihren Arzt oder Buchhändler. Man sollte Bücher mit Warnhinweisen versehen. Dachte er. Bei Zigaretten ging das ja auch. Vor einem Supermarkt blieb er stehen. Leichtes Zögern. Mittelschweres Zögern. Betreten des Ladens unter vollkommener Verwerfung des Zögerns. Zu Risiken und Nebenwirkungen … Zielstrebig suchte er nach dem Schnapsregal. Der Wodka im Angebot kostete 6,99 €. Das war billiger als der Celan. Und Celan hatte er ohnehin zuhause. Und wenn man sich schon als Protagonist Dostojewskis fühlte, gehörte Wodka irgendwie dazu. Er nahm die Flasche. Stellte sich an die Kassenschlange, die nicht sehr lang war. Der Typ an der Kasse sah krank aus. Er zog den Wodka über den Scanner. Es piepste. „6,99 bitte.“ Er fingerte in seinem Portemonnaie. Hatte es passend. Gab dem Mann sein Geld und ging.

Wieder in den heimatlichen Gefilden schnappte er sich einen Bukowski. Das Knacken einer frischen Schnapsflasche hat etwas Herrliches. Er goss ein Glas voll. Legte Beethoven auf. Bukowski liebte klassische Musik. Und er liebte Bukowski. Die Abendsonne schlenderte durch die Fenster. In eine nicht sehr aufgeräumte Wohnung. Wie Innen so Außen, sagt man. Er nahm einen großen Schluck und versank im Amerika einer anderen Zeit.

© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Pixabay von Pexels

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