Samstag ist ein herrliches Gefühl (Kurzprosa)

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrags-Kategorie:Kurzprosa
  • Lesedauer:8 min Lesezeit

Zweckoptimismus ist eine nette Sache. Er stand in der Lottobude. Machte seine Kreuze. Der Preis der Hoffnung. Jede Woche aufs Neue gezahlt. Seit über 20 Jahren. Mal einen Dreier. Auch schon mal einen Vierer. Alles in allem ein Verlustgeschäft. Vier Reihen waren sein Standard. Wenn das Geld reichte. Nie mehr. Selbst wenn alle vom Jackpott sprachen. Das interessierte ihn nicht. Drei Kästchen spielte er feste Zahlen. Kästchen eins, sein Geburtsdatum und das seiner Eltern. Seine Eltern waren lange tot. Kästchen zwei, sein Geburtsdatum und das seiner Geschwister. Die lebten beide in Hamburg. Kästchen drei, sein Geburtsdatum, das seiner Tochter und der Exfrau. Seine Tochter studierte in Berlin. Im vierten Kästchen ließ er sich vom Blick auf die Zahlen inspirieren. Zahlen sind schon eine seltsame Sache. Dachte er dann immer. Der Mensch braucht bekanntlich Rituale. Jeden Samstag. Denn Samstag war sein Glückstag. Immer um 15 Uhr Wie einen Gottesdienst. Nur, dass mit der Kirche keine Verträge mehr hatte. Und wenn Pythagoras recht hat, ist Gott sowieso eine Zahl. Und dann war alles in Ordnung so.

Er gab den Schein der Tresenfrau. Heute war es die Muffelige. Die hatte er noch nie lachen sehen. So schlechte Dauerlaune kann nicht gesund sein. Sie ließ den Schein durch die Maschine wandern. Er bezahlte und steckte den Beleg in sein Portemonnaie. Dann kaufte er noch eine Schachtel Zigaretten. Lotto wird extra kassiert. Daher muss man zweimal bezahlen. Hatte die Muffelige ihm einmal erklärt. Zigaretten und Lotto getrennt. Ohne ein Lächeln. Er nahm die Zigaretten. Öffnete die Schachtel noch gleich hier im Laden. Zog eine heraus und ließ sie an der Nase entlangfahren. Von rechts nach links. Gutes Aroma.

„Bis nächste Tage.“ Nickte er der Muffeligen zu. „Wiedersehen.“

Draußen knipste er die Zigarette an. Nahm einen tiefen Zug. Und schaute in den Himmel. Kaum Wolken und sonnig. Die Höchsttemperaturen liegen bis zu 33 Grad. Im Norden kann es am späten Nachmittag Gewitter geben. Hatte die nette Wetterdame im Fernsehen gesagt. Aber Norden war weit weg. Voilá. Er schlenderte in Richtung Bäckerladen. Eine alte Dame mit noch viel älterem Hund an der Leine kam ihm entgegen. Zeitlupenstudie in Grau. Wer zuerst da ist, bekommt eine Wurst. Vor dem Bäcker blieb er stehen. Unter der Sonnenmarkise. Rauchte in Ruhe auf. Samstag ist ein herrliches Gefühl.

Er ließ die Zigarette auf den Bürgersteig fallen. Trat sie aus und ging in den Bäckerladen. Die Dicke stand hinter der Glastheke. Sie war noch jung. Dick wie eine Tonne. Aber sehr nett. Mit einer ganz weichen Stimme. „Guten Tag. Was darf’s denn sein?“ „Hallo. Hm … ja, ich schau mal.“ In der Auslage war, einem Samstagnachmittag entsprechend, nicht mehr das allermeiste an Kuchen da. „Ich hätt’ gern den Bienenstich.“ „Gerne.“ Sie legte den Bienenstich auf ein kleines Papptablett. Packte ein Stück von diesem dünnen Papier oben drauf. Und schob das ganze in eine Tüte. Darf’s sonst noch etwas sein?“ „Nein danke. Das wär’s.“ „1,20 bitte …“ „Ja, … Moment …“ Er durchwühlte sein Portemonnaie. Hatte es passend. Und legte es der Dicken in die Hand. „Danke sehr.“ Dann nahm er die Tüte. „Vielen Dank. Und ein schönes Wochenende.“ „Das wünsch ich ihnen auch.“ So ein Bäckereibesuch ist eine nette Angelegenheit. Dachte er. Und zog mit seiner Beute ab. In Richtung Heimat.

Zuhause angekommen legte er die Tüte auf den Küchentisch. Setzte einen Kaffee auf und ging erst einmal pinkeln. Die Kaffeemaschine gluckerte. Er wusch sich einmal kalt durchs Gesicht. Ging zurück in die Küche und schaltete das Radio an. Der Kaffee war fast fertig. Verkehr. Auf der A1 kommt es aufgrund von Baustellen zu einem Stau von 5 km … Bei der Hitze. Was für ein Quatsch. Er nahm den Bienenstich aus der Tüte. Zog das dünne Papier ab. Und warf es mit der Tüte in den Müll. Goss einen Kaffee ein. Holte eine Kuchengabel aus der Schublade und machte sich über den Bienestich her.

Am Abend saß er dann vor der Glotze. Eigentlich wollte er noch in die Kneipe um die Ecke gegangen sein. Aber irgendwie konnte er sich nicht aufraffen. Also trank er sein Bier im eigenen Sessel. Mit den Leuten aus dem Fernsehen. Und einer Tüte Billigflips. Alles in allem wesentlich günstiger. Und die Gesellschaft kann man sich aussuchen. Halbwegs zumindest. Wobei der bunte Flimmerbrei ihn nicht wirklich überzeugte. Dass man für so einen Schund Gebühren zahlte, war die Frechheit des Jahrhunderts. Dachte er. Und die Krönung der ganzen Verblödungsindustrie war der neue Zeitpunkt der Lottoziehung. 22:45 Uhr. Ein Jahrzehnte alter Ritus zerstört. Er nahm einen kräftigen Schluck Bier. Die Flips näherten sich dem Ende. Er fingerte die letzten heraus. Stopfte sie in den Mund. Und legte die Tüte auf den Tisch. Rieb sich die Hände. Steckte eine Zigarette an. Der Rauch verteilte sich im Raum. Eine halbe Stunde noch. Zeit ist bekanntlich relativ. Was immer das heißen mag. Die hier zog sich wie Kaugummi. Er stand auf. Griff die leere Tüte und ging in die Küche. Warf die Tüte in den Müll. Öffnete den Kühlschrank. Nahm ein neues Bier und zog zurück vor den Fernseher.

Er bemerkte eine leichte Müdigkeit. Im Sessel. Kippte einen großen Schluck Bier in sich rein. Schüttelte den Kopf. Fühlte sich gut. Irgend so eine Frau erzählte ihm etwas von Unwettern über Deutschland. Der Lottoschein lag auf dem Tisch. Wenn die Augen erst einmal schwer werden, hat man meistens verloren. Aus der Nummer kommt man kaum wieder raus. Außer mit guten Stimulanzien. Aber einen Kaffee wollte er jetzt nicht. Das kalte Bier wird schon reichen. Er rückte sich zurecht. Zappte lustlos durch die Welt. Merkte das Bier so langsam. Und endlich war die Zeit rum. Die nette Lottofrau begrüßte ihn. Blah, blah und dann ging’s los. Die große Glaskugel mit ihren 49 Kindern drehte sich. Wie ein Planetensystem. Dachte er. Als erste Zahl kam die 12. Sein Geburtsmonat. Dritte Reihe. Das fängt ja gut an. Dreh, dreh, dreh … Die zweite Zahl war die 14. Geburtstag seiner Exfrau. Dritte Reihe. Die Musik war zwar schrecklich. Aber bei zwei Richtigen sollte man die Ruhe bewahren. Dreh, dreh, dreh … Die 46. Leider nicht im Angebot. Aus der Traum vom ganz großen Glück. Aber wer will das schon? Er kniff die Lippen zusammen. Dreh, dreh, dreh … Vierte Zahl war die 10. Geburtsmonat seiner Exfrau. Dritte Reihe. Drei Richtige. Endlich mal wieder im Spiel. Er zog die Augen hoch. Lächelte. Der letzte Gewinn lag schon einige Zeit zurück. Ebenfalls drei Richtige. 9,60 € damals. Dreh, dreh, dreh … Die 2. Geburtsmonat seiner Tochter. Dritte Reihe. Vier Richtige. Was für ein Spaß. Er nahm einen großen Schluck Bier. Auf dich, mein Schatz. In Berlin. Nun gefiel ihm sogar die Musik. Dreh, dreh, dreh … Spannung … Die sechste Zahl ist die 29. Neunundzwanzig. Er glaubte es nicht. 29 war sein Geburtstag. Dritte Reihe. Fünf Richtige. Es folgt nun die Ziehung der Zusatzzahl. Fünf Richtige. FÜNF. Er drückte die Bierflasche. Wie nichts Gutes. Dreh, dreh, dreh … Die Zusatzzahl lautet: 18. Geburtstag seiner Tochter. Dritte Reihe. Sein Mund stand weit offen. Mit Zusatzzahl. Fünf Richtige mit Zusatzzahl. Es folgt nun die Ziehung der Superzahl. Blah, blah … Dreh, dreh, dreh … Und die Superzahl ist die 8. Superzahl war egal. Blah, blah, und hier noch einmal die Gewinnzahlen: 2 10 12 14 29 46 – 18. Ohne Gewähr. Er knipste die Glotze aus. Starrte auf den schwarzen Schirm. Fünf Richtige mit Zusatzzahl. Er überlegte. Das könnten um die 50000 € sein. Plus – minus. Fünf mit Zusatzzahl. Wer hätte gedacht, dass er seiner Exfrau noch einmal ein solches Vergnügen verdanken würde. Er stand auf. Lief in der Wohnung herum. Fünf. Du wirst gleich im Sessel vor dem Fernseher aufwachen. Und alles war nur ein Traum. Dachte er. Ging ins Bad und wusch sich kalt durchs Gesicht. Schaute in den Spiegel. Fünf. Sagte er. Mit Zusatzzahl. Und begann zu lachen.

 

© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Waldemar Brandt

Schreibe einen Kommentar