Kapitel 9: Frisches Gras, Farbrausch und Tarnkappen

(Frisches Gras, Farbrausch und Tarnkappen)
Noah riss die Augen auf. Er war leicht durchgeschwitzt. Die Bettdecke klebte wie eine zweite Haut. Er hasste das, tastete nach dem Wecker, fand ihn und drückte den Knopf. 4:01 Uhr sagte ein blaues Licht. Es war immer gegen vier, wenn die Träume ihn aus dem Schlaf kickten. Wie ein regelmäßig wieder kehrender Arschtritt zur vierten Stunde. Was ist mit dieser vierten Stunde? Was stimmt nicht mit dir? Er zupfte die Decke nach hinten. Setzte seine Füße auf den Boden und legte das Gesicht in die Hände. Im Sitzen wieder einschlafen wäre nicht gut. Er zog seinen Körper nach oben und das Gleichgewicht brauchte ein oder zwei Sekunden. Der Kreislauf rutschte langsam, mit einem kurzen Holpern hinterher.
Noah tapste zum Fenster, schob seine Finger zwischen die Lamellen des Rollos und schaute durch den Spalt nach draußen. Und obwohl es noch dunkel war, stand das Tageslicht bestimmt schon vor den Toren. Er zog das Rollo hoch, öffnete das Fenster und schaute in den Himmel. Die Luft war frisch und klar. Ein Gefühl, als hätten die Sterne geduldig auf ihn gewartet, wollte sich nicht einstellen. Seit seiner Kindheit war er verliebt in diese Sterne. Die wohl längste Liebesbeziehung, an die er sich erinnern konnte. Mit allen Höhen und Tiefen, wenn man den Horoskopen von Colette Glauben schenkte. Aber Noah hatte vergessen, woran er glaubte.
Der Duft von frisch gemähtem Gras krachte an seine Nase. Er zog dreimal tief ein und musste lächeln. Eine Etage tiefer tanzte heller Rauch aus dem Fenster unter ihm. Besser als jede Papstwahl. Er wusste nicht genau, wer da wohnte, aber Kiffer gab es hier überall. Und der Sound, der sich mit dem Rauch mischte, klang verdächtig nach House oder so. Kam ziemlich cool rüber, wenn auch sehr leise. Noahs Kopf wippte automatisch mit. Und die Sterne begannen, zu tanzen. Zwei geöffnete Fenster nachts um vier und die Sterne machten Party. Aber das machten sie jede Nacht. Seit Millionen von Jahren. Bis zum Sonnenaufgang.
Im Zeichen des Großen Wagens tauchte plötzlich ein fremdes Licht auf. Sah fast so aus, als hätte jemand den Blinker gesetzt. Das Licht wackelte allerdings hin und her. Ging nach rechts, nach links, nach oben, nach unten. Zog ein paar Kreise, hüpfte wild auf und ab, so als würde jemand mit seinem nackten Arsch auf einem Rodeobullen reiten. Noah amüsierte sich köstlich. Er wusste nicht warum, aber das war ihm in diesem Moment egal. Er starrte einfach auf dieses Licht, das so schön vor seinen Augen tanzte. Er grinste und war rundum zufrieden. Nicht einmal die Frage, was zum heiligen Raumschiff es mit diesem Licht auf sich hatte, stellte sich.
Erst als es langsam immer näher kam, wurde er skeptisch. Und obwohl die Musik nicht mehr spielte, wippte sein Kopf trotzdem weiter. Wollte nicht aufhören zu wippen. Konnte nicht aufhören. Dieses Licht kam direkt auf ihn zu. Und alle Erklärungsversuche, die sein Gehirn sich zurechtlegte, liefen ins Leere. Mussten ins Leere laufen. Und plötzlich hing es direkt vor ihm. Am Fenster des sechsten Stocks. Eine strahlende, helle Lichtkugel, ähnlich wie die von der Prinzessin im Froschkönig und etwa so groß wie ein japanischer Kleinwagen. Noah blinzelte.
Das Licht flackerte ein paar Male kurz auf. Es brummte und zischte. Bis es schließlich wie ein automatisches Cabrioverdeck öffnete und nach rechts und links im Nichts verschwand. Eine silberne Untertasse kam zum Vorschein. Wie aus dem Ei gepellt und auf Hochglanz poliert. In ihrer Mitte eine gläserne Kuppel, die mit einem deutlichen Summen verschwand und zwei Wesen zum Vorschein brachte.
»Das ist guter Duftt, Bruder.«, sagte das eine zu Noah.
»Entschuldigen Sie bitte, der Tarnkappenmodus hat ein oder zwei Wacklige.«, sagte das andere. »Wen in der Galaxis interessiert das?«, sagte das eine.
»Mich. Mich interessiert das. Immerhin bin ich der technische Offizier dieser Schönheit.«, sagte das andere.
Noahs Blicke sprangen von einem zum anderen. In seinem Kopf rauschte es gefährlich. Muppet Show. Die beiden Typen sahen aus, als kämen sie direkt aus der Muppet Show. Eine Mischung aus Pinguin und Kaninchen. Vielleicht auch Bibo und Oskar. Wer kann das wissen?
»Zur Venus mit der Schönheit.«, sagte das eine.
»Du interessierst dich kein bißchen für meine Arbeit.«, sagte das andere.
»Wenn du deine Arbeit drauf hättest, würde der Tarnkappenmodus nicht flackern.«, sagte das eine.
»Das ist so gemein.«,sagte das andere und die Stimme flimmerte wie kurz vor einem Heulkrampf.
»Wenn du jetzt anfängst zu flennen, werde ich furzen, beim Nebel des Orion. Ich schwör’s.«, sagte das eine.
»Das ist mal wieder typisch.«, schluchzte das andere und schaute auf Noah. »Wenn er furzt, wird es richtig böse. Das könnte deinen gesamten Planeten ruinieren.«
»Immer noch besser, als dein Geflenne auch nur eine Minute länger zu ertragen.«, sagte das eine.
»Ach ja? Aber als mein Geflenne uns auf Drobedinda das Leben gerettet hat, da war es dem feinen Herrn doch wohl sehr recht. Hmm?«
»Dein Geflenne rettet Leben, weil es töten kann.«, sagte das eine und schaute Noah an, »Ohne Spaß, gegen das, was passiert, wenn sie losheult, war die Sintflut eine gemütliche Kreuzfahrt. Zum Glück haben wir Kiemen an unseren Zehen.« Er knipste ein Auge zu und nickte mit dem Kopf.
»Was du nicht alles weißt. Schätzchen, glaub diesem Kerl kein Wort. Er lügt, wenn er den Mund aufmacht. Das kann man riechen.«, sagte sie.
»Ach ja? Ich kann mich an Sachen erinnern, da passt es dir ziemlich gut in den Kram, wenn ich den Mund aufmache.«, sagte er.
»Äh, Freunde? Kann ich euch vielleicht irgendwie helfen?«, fragte Noah vorsichtig. Die beiden starrten ihn an.
»Na ja, wir sind gerade zufällig in der Gegend. Und, äh, ja, vielleicht kannst du uns wirklich helfen.«, sagte er.
»Zufällig, hah, von wegen. Da hat jemand sein Raumschiff nicht im Griff.«, sagte sie und schaute verächtlich in die Sterne.
»Hör da gar nicht hin. Also, wir kommen vom Planeten Haon 48, also quasi gleich um die Ecke.«
»Schätzchen, mein Friseur ist gleich um die Ecke. Bei Planeten dauert’s schon mal etwas länger.«, sagte sie und lächelte in Noahs Richtung.
»Wer erzählt denn jetzt hier die Geschichte? Du oder ich?«
»Du natürlich. Wer denn auch sonst?«
»Gut. Also wo war ich stehen geblieben? Haon 48, Friseur, Quatsch, jetzt hab ich vergessen, was ich sagen wollte.«
»Dann kann’s nicht so wichtig gewesen sein.«, sagte sie und grinste.
»Das ist lustig«, sagte Noah, »ist euch mal aufgefallen, das Haon rückwärts gelesen, Noah heißt. Und das ist mein Name. Noah, ich heiße Noah.«
»Das ist in der Tat interessant. Mein Name ist übrigens Sssssssssss4538 und das hier ist meine schlechtere Hälfte Bbbbbbbbbbbbb17178.«, sagte er und seufzte.
»Unsere Namen benutzen wir allerdings so gut wie nie.«, sagte sie und kratzte sich am Kopf.
»Schlechtere Hälfte?«, fragte Noah.
»Ja. Das ist Wissenschaft. Es soll alles besser laufen, wenn die Mitglieder einer Crew sich nicht leiden können. Und halbe Sachen machen die nicht, das kannst du mir glauben.«, sagte er und nickte mehrfach den Kopf.
»Es ist wie ein System beim Roulette. Der ewige Streit zwischen Rot oder Schwarz. Und durch eine schlechtere Hälfte verdoppelt sich die Wahrscheinlichkeit für die ein oder andere Richtung.«, sagte sie.
»Das ist natürlich totaler Schwachsinn. Wie jedes andere Roulette-System auch. Aber es verkauft sich ganz gut. Und sie halten daran fest.«, sagte er und seufzte tief.
Noah stutzte. Vor seinem geistigen Auge zog die Enterprise vorbei. Und jetzt das.
»Und wie genau kann ich euch jetzt helfen?«, fragte Noah. Er hing irgendwie immer noch an der Enterprise.
»Warte.«, sagte das eine und fing an, was zu suchen. »Ich hab’s gleich.«
»Ich fürchte, das kann dauern.«, sagte sie, »Er hat einmal drei Monate seine Zahnbürste gesucht.« Sie lachte verächtlich. Er kramte, wühlte und warf allerlei Zeug hinter sich.
»Es muss hier irgendwo sein.«, sagte er und schnaufte dabei, als würde er beim New York Marathon in Führung liegen.
»Ah, hier haben wir ihn.«, sagte er mit bester Laune, »Weißt du, was das ist?« Er streckte Noah seine Hand entgegen, auf der etwas lag.
»Ja klar. Das ist ein Zauberwürfel.«, sagte Noah.
»Korrekt. Der Rubik‘s Cube. Ein Verkaufsschlager aus den 80er Jahren. Kannst du den für uns lösen?«
Noah runzelte die Stirn.
»Moment, verstehe ich das richtig? Ihr kommt von was weiß ich woher und wollt, dass ich euch einen Zauberwürfel löse?«
»Ich hätt’s nicht besser sagen können. Und wir kommen von Haon 48. Du erinnerst dich? Dein Name? Rückwärts? Noah?«
»Sicher. Aber warum löst ihr ihn denn nicht selbst. Ich meine, im Internet gibt’s mehr als 1000 Lösungen. Es wimmelt geradezu so von Lösungen.«
»Man hat uns diese Aufgabe gestellt. Aber wir hatten bis jetzt noch nicht die Zeit, uns näher damit zu beschäftigen.«, sagte sie und versuchte, charmant zu lächeln.
»OK.«, erwiderte Noah, »Ihr bekommt es nicht hin. Stimmt’s?«
»Äh, nun, vielleicht.«
»Man, es gibt sogar Maschinen, die euch das Teil klar machen.«, sagte Noah.
»Und? Äh, hast du so eine Maschine?«, fragte er und machte große Augen.
»Nein. Aber warum zum Henker gibt man euch denn so eine Aufgabe?«
»Keine Ahnung. Der Boss hat wie immer wild durch die Gegend gebrüllt. Irgendwas mit Ordnung, glaube ich.«, sagte er.
»Ja, ich erinnere mich. Innere und äußere Ordnung. Das war’s. Wenn wir ihn lösen, bringt das innere Ordnung. Oder so ähnlich.«, sagte sie und kratzte sich an der Nase.
»Innere Ordnung? Und wieso könnt ihr ihn dann nicht lösen?«
»Zum einen sind unsere Hände sehr groß. Zum anderen sind wir farbenblind.«, sagte er und zeigte Noah seine Pranken, die wirklich stattlich waren.
»Ihr könnt keine Farben sehen?«
»Doch, doch, sehen können wir sie schon. Nur wechseln sie dauernd. Dein T-Shirt zum Beispiel. Eben war es noch weiß. Jetzt ist es blau. Nun wieder rot. Eigentlich hat es alle Farben schon durch.«, sagte er und zog die Schultern hoch.
»Wow. Dann müsst ihr ja ständig ein buntes Flimmern vor den Augen haben.«, sagte Noah.
»Ja, es ist ziemlich poppig. Aber wenn man’s nicht anders kennt, ist es eigentlich ganz normal.«, sagte er und zeigte einen Daumen.
»Nur bei der Vorstellung krieg ich schon einen Farbrausch.«, sagte Noah, »Habt ihr da irgend einen Einfluss drauf?«
»Meditation soll ganz hilfreich sein.«, sagte sie.
»Das ist jetzt auch nicht so wichtig. Kannst du das Ding für uns lösen. Oder nicht?«, fragte er und seine Stimme klang ganz normal. Noah grinste.
»Ja, ich schätze mal, das kann ich. Wisst ihr, während die meisten Menschen auf dem Klo Zeitungen oder Comics lesen, drehe ich am Zauberwürfel.«
»Was ist dem Klo?«, fragte sie. Noah schaute etwas entgeistert in ihre Richtung.
»Das ist, äh, egal. Schmeiß ihn mir rüber.«, sagte Noah und streckte seine Hände aus. »Ich fang ihn auf.«
»Ich hoffe, ich kann das.«, sagte er mit einem leichten Flackern in der Stimme.
»Komm schon, das sind nur knappe zwei Meter.«, sagte sie, »Wer ist denn jetzt hier die Heulsuse?«
Er grummelte irgendwas vor sich hin und warf den Würfel dann zu Noah herüber.
Der fing ihn auf und riss ihn wie eine Trophäe in die Luft.
»Torwart in der D-Jugend.«, jubelte er, »Na dann wollen wir uns das mal anschauen.« Er studierte kurz die Seiten des Würfels und fing dann an zu drehen.
»Wow, der läuft gut. Sehr flüssig. Ich hatte da schon andere Würfel in der Hand. Wo hat euer Boss den wohl her?«
»Keine Ahnung. Aber er ist so ein 80er-Jahre-Fan und hat alles Mögliche aus dieser Zeit. So ein Trottel.«, sagte er und bewunderte die Geschwindigkeit, mit der Noahs Hände den Würfel bearbeiteten.
»Und was will er wohl damit? Ich meine, er wird nie wirklich erkennen, ob der Würfel tatsächlich gelöst ist. Oder?«, fragte Noah.
»Na ja, obwohl er ein ziemlicher Trottel ist, meditiert er viel. Es gibt sogar Leute, die ihn durchaus für weise halten.«sagte er und kraulte sein Kinn.
»Und vielleicht hat er eine Meditationsstufe erreicht, wo die Farben nicht mehr wechseln.«, sagte sie.
»Das würde bedeuten, dass er den gelösten Würfel tatsächlich erkennen könnte. Wenn auch vermutlich nur für eine ganz kurze Zeit. Aber immerhin.«, sagte er und dachte nach.
»T’ja und dann stellt sich die Frage, wer von euch beiden denn nun der größere Trottel ist?«, sagte sie und lachte fies, »Ich setzt ein Monatslohn auf dich.« Sie knuffte seine Schulter.
»So, bitte schön.«, sagte Noah und präsentierte den Würfel, »Einmal gelöster Zauberwürfel zum Mitnehmen. Darf’s sonst noch was sein?« Er lächelte breit.
»Wow, super, und er ist wirklich fertig?«, fragte sie.
»Fix und fertig. Vertraut mir.«, sagte Noah.
»Gut, dann wirf ihn bitte wieder rüber.«, sagte er und versuchte Noahs Torwarthände nachzumachen.
Noah warf und der Würfel landete direkt in den Pranken. Alle jubelten und ihre Arme tanzten. Party.
»Super, wie können wir dir danken?«, fragte er.
»Ach, ist schon OK.«, sagte Noah und winkte ab, »Bestellt eurem Boss einen schönen Gruß.«
»Machen wir. Du bist sehr süß.«, sagte sie und winkte Noah zu.
»Wir werden dich nie vergessen. Nochmal vielen Dank. Und mach’s gut.«, sagte er und winkte ebenfalls.
»Lasst euch mal wieder blicken.«, sagte Noah und stieg in das Gewinke voll mit ein.
Es summte, und die Glaskuppel war wieder da. Das Licht umschloss die Tasse von allen Seiten. Es flackerte ein paarmal kurz auf. Und wie eine Flipperkugel schossen sie dann ab in die Sterne. Und schon nach zwei oder drei Sekunden waren sie nicht mehr zu sehen, so sehr Noahs Augen sie auch suchte.
Er blieb noch ein Weilchen am Fenster stehen. Sah in die Sterne und lächelte. Dann leitete das Gehirn eine 180 Grand Drehung ein. Das wird mir keine Sau glauben, dachte er und warf sich zurück auf sein Bett. Nach zwei oder drei Sekunden war er eingeschlafen und dann glaubte er es selber nicht mehr.

 

 

© Ulrich P. Hinz

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