Zwischen Kioskromantik und Stringtheorie (Kurzprosa)

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Die Stimmen in seinem Kopf hatten aufgehört, freundlich zu sein. Es herrschte Krieg. Nicht im herkömmlichen Sinne. Mehr wie ein Krieg unter Nachbarn. Perfide und hinterhältig. Zu allem entschlossen. Zum Äußersten bereit. In Träumen sah er sein Gehirn oft auf einer Werkbank liegen. Und irgendwelche Arme stachen Messer in das Fleisch. Seine Stirn war nach oben geklappt. Wie ein offener Sarg. Und anders als erwartet, gingen diese Messer nicht leicht hinein. So als würde man versuchen, mit abgerundeten Klingen in eine Matratze zu stoßen. Und bei jedem Versuch lachte es. Nicht nur ein Lachen. Viele Lachen. Gemeines Lachen. Auslachen. Und wenn er dann aufwachte, blieb dieses Lachen frisch. Über Tage. Hielt sich wie Essensreste in einem Kühlschrank. Mit Alufolie bedeckt. Keimfrei bei 4 Grad Celsius. Blut sah er in diesen Träumen nie.

Der Zirkus war in der Stadt. Wenn er an den Plakaten vorbei ging, sah er die Manege vor sich. Roch den Sand und die Tiere. Sah das Staunen in den Augen der Kinder. Der Vollmond stand unmittelbar bevor. In solchen Nächten waren die Träume besonders schlimm. Er saß am Tisch und schnitt eine Scheibe Brot in der Mitte durch. Abendbrot. Der Straßenverkehr dröhnte durch das Fenster an dem zwei Fliegen krabbelten. Es war gekippt. Und der Duft nach Regen blieb irgendwo im Raum stecken. Er nahm einen Bissen. Kaute langsam vor sich hin. Sein Blick fror immer wieder ein. Wie ein Standbild. Minutenlang. Jeder halbwegs gute Regisseur hätte diese Szene geschnitten. Aber einen Regisseur hatte er nicht. Das Licht wurde schwächer. Ein leichtes Frösteln wanderte durch seinen Körper. Er legte das Brot auf den Teller zurück. Die Verwunderung über die momentane Appetitlosigkeit hielt sich in Grenzen. Der Unterschied zwischen Liebe und Lüge ist klein. Offensichtlich sind es nur zwei Buchstaben. Lauttechnisch gesehen vielleicht nur einer. Er nahm das Glas. Trank einen Schluck. Wasser. Hielt es in der Hand. Bis es warm wurde. Stellte es zurück und stand auf.

Neben der Wohnungstür saß der Hund. Ausgestopft. So als würde er darauf warten, jeden Moment mit ihm in den Park zu gehen. Der Präparator hatte gute Arbeit geleistet. Die Leine hing noch an der Garderobe. Er zog seine Jacke an. Streichelte dem Hund über den Kopf. Horchte kurz an der Tür und betrat das Treppenhaus. Im Restlicht des Tages legte er die Hand auf das Geländer. Nahm eine Stufe nach der anderen. Ging an den Briefkästen vorbei, öffnete die Haustür und stand auf dem Bürgersteig. Ein leichter Schwindel erinnerte ihn, dass er seine Tabletten nicht genommen hatte. Der Kopf wanderte von rechts nach links. Und wieder zurück. Der Kiosk lag rechts. Er hatte keine Zigaretten mehr. So fällt man Entscheidungen heute. Dachte er und ging los. Die Hände in den Jackentaschen.

Die Straßenlaternen flackerten auf. Durch die Nase bekam er nur schlecht Luft. Aber das störte ihn nicht. Der Mensch gewöhnt sich bekanntlich an alles. Sogar an den Tod. Die roten Leuchtbuchstaben des Kiosks hatten etwas Einladendes. Strahlten eine Gemütlichkeit aus, die fast romantisch wirkte. Sentimentales Geschwätz. Im Kiosk war es hell. Sie ködern die Leute mit Licht. Und wie die Mücken, Motten und das ganze andere Flugzeug, lassen die sich davon anziehen. Ironie der Evolution. Im Tanz um das Feuer. Der Typ hinter dem Tresen las Zeitung. Er kannte ihn vom Sehen. Und als er den Laden betrat, blickte der kurz auf und nickte. Die vollgepackten Kühlschränke mit Getränken jeder Art. Hinter den Glastüren standen Flaschen und Dosen wie die Soldaten beim Zapfenstreich. Das Zeitschriftenregal. Ziemlich groß. Und bunt. Eine bunte Welt, so ein Kiosk. Schöne bunte Welt. Er nahm eine Illustrierte. Irgendein Blondchen streckte ihren Schmollmund lasziv in die Kamera. Beim Durchblättern ließ sie ihre Hüllen fallen. Das Innenleben dieser Illustrierten war billig. Im Gegensatz zum Preis. Neben den Zeitschriften stand ein Drehständer mit Büchern. Er ließ ihn einmal kreisen. Wie eine Gebetsmühle. Dann ging er zum Tresen. Bestellte eine Schachtel Zigaretten und eine kleine Flasche Schnaps. Steckte beides in die Jacke und war schon wieder draußen. Es roch nach Sommer und Smog.

Er knipste eine Zigarette an. Mit dem ersten Zug wurde der Schwindel stärker. Seine Hand tastete nach der Häuserwand. Traf sie. War dankbar. Das Haus hielt ihn aufrecht. Ein, zwei Minuten. Er sah auf die Uhr. Gleich Neun. Trat den Rückzug an. Die Hauswand entlang. Eine Frau mit einem Mädchen an der Hand kam ihm entgegen. „Mami, was hat der Mann?“ Er winkte ab. „Alles in Ordnung.“ Die beiden liefen weiter. Er sah ihnen nach. Das Mädchen drehte noch einmal den Kopf zurück.

Die Zigarette hatte er fallen gelassen. Der Schwindel ließ nach. Ein leichtes Zittern in den Knien. Vorsichtig. Ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen. In der Schwüle eines Sommers sind schon ganz andere auf der Strecke geblieben. Die Haustür kam langsam näher. Ein Auto mit dröhnender Musik fuhr vorbei. Die Kids von heute. Dachte er und lächelte. Den Türschlüssel hatte er schon in der Hand. Man kann ja nie wissen. Der alte Mann aus dem Nachbarhaus lehnte im Fenster. 3. Stock. Die Arme auf ein Kissen gebettet. Er nickte ihm zu. Ging weiter. 20 Schritte. Sie haben ihr Ziel erreicht. Eine Haustür ist mehr als eine Tür. Genauso wie der alte Mann im Fenster mehr ist als ein bloßes Klischee. Er liebte diese Türe. Schob den Schlüssel ins Loch. Merkte, wie auch seine Hände leicht zitterten. Im Treppenhaus war es angenehm kühl. Stufe auf Stufe. Ob Holz. Ob Stein. Jedes Haus hat seinen ganz eigenen Geruch.

Sie haben ihr Ziel erreicht. Er streichelte den Hund. Hängte die Jacke an die Garderobe. Nahm die Zigaretten und den Schnaps. Ging ins Wohnzimmer. Zum alten Sessel. Machte Licht. Auf dem Tisch standen die Tabletten. Er legte die Zigaretten daneben. Fingerte eine Tablette heraus. Steckte sie in den Mund. Öffnete die Schnapsflasche. Zwei, drei kräftige Schlucke und die Welt ist wieder in Ordnung. Der Sessel war bequem. Er knipste die Glotze an. Zappte durch. Buntes Brausegemisch. Blieb bei einer Dokumentation über das Universum hängen. Kippte nach. Der Urknall sei der Anfang. Sagen die. Aber an den Urknall glaubte er nicht. Er glaubte nicht einmal an die Müdigkeit. Die stärker wurde. Galaxiensuppe mit Sternenbeilage. Der Blick auf die Erde, von oben betrachtet, wird schwächer. Das Hineingleiten in den Auflösungsbereich. Unter Verwendung handelsüblicher Hartgetränke. Im Zusammenspiel mit medikamentöser Chemieassistenz. Zwischen Kioskromantik und Stringtheorie. Und wild schlagen die Augen. Tragen ihn an die Werkbank zurück. Der Blick auf das Gehirn, von oben betrachtet, wird stärker. Und die Stimmen schreien. Und lachen. Und brüllen. „Das Gehirn ist das Ende des Universums!“ Und die Messer beginnen zu glänzen. Im rhythmischen Einheitsbrei singen sie die berühmteste Formel der Welt. Der Tanz um das goldene Kalb. Und lachen. Und schreien. Und Toben. Und … Sie haben ihr Ziel erreicht. Auslachen …

© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Nothing Ahead

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