Bis auf den letzten Vers (Kurzprosa)

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Bis auf den letzten Vers

(Im Chor des Pythagoras)

Er atmete schwer. Durch das Fenster kam schwaches Licht. Aus der neuen Welt lief. Übertönte den Straßenlärm. In seiner Nase ein Sauerstoffschlauch. Gestern war der Priester da. Er wollte das nicht. Die Krankenschwester hatte ihn geholt. Wenn die Medizin mit ihrem Latein am Ende ist, bleibt die Kirche. Wehren konnte er sich nicht. Die letzte Ölung hielt er für Quatsch. Wie den ganzen übrigen Hokuspokus. Hoc est enim corpus meum. Zaubershow seit jeher. Sein Leib war am verfaulen. Und so roch er auch. Durchgelegen und im Höllenfeuer. Bei vollem Bewusstsein. Sprache nur noch im Denken. Eingeschränkt durch Morphium. Je nach Tageszeit. Je nach Dosis. Das Nichts in den Startlöchern. Die Zielgerade im Visier. Er auf der Bühne. Im Blick der Scheinwerfer.

Epilog:

Ob es sich gelohnt hat. Wollt ihr wissen. Nun, es hält sich die Waage. Und ich weiß nicht, ob gut oder schlecht. Zu viel gelitten. Zu wenig geliebt. An Zwängen erstickt. Zur Freiheit berufen. Ertrunken im Überfluss der Talente. Verdorben vom ersten Licht. Der Versuchung erlegen. Körper und Geist im Widerspruch. Rausch der Sinne ohne Gewähr. Hier steh ich. Und darf nicht anders. Das Elend der Welt. Durch mich nicht gelindert. Die Hoffnung – ein Janusgesicht. Der letzte Brief. Ich habe ihn nicht geschrieben. Verstümmeltes Selbst schon vom Beginn. Gestartet um lediglich unterzugehen. Dazwischen ein Leben. Ihr Götter und Richter. Steht auf mit mir. Und feiert die Stunde. Wir zählen sie runter. Bis auf den letzten Vers. Im Chor des Pythagoras. Verbunden mit allem. Was bleibt. Verloren im haltlosen Fall. Der Rest ist nicht einmal Schweigen. Ihr Götter solltet das wissen. Uns bleibt nur die Angst.

Die Schwester war hereingekommen. Zog eine Spritze auf. Dvorak war fertig. Sie prüfte und drückte es ganz in ihn rein. Dann ging sie zur Anlage und wechselte die CD. Peer Gynt. Morgenstimmung lief an. Sie zog die Tür hinter sich zu.

Epilog:

Jesus, mein Freund. Du weißt, dass ich dich liebe. Obwohl ich nicht an dich glaube. So liebe ich doch deine Philosophie. Auch oder gerade deshalb, weil es Philosophie der Schwachen ist. Nur wird die Welt leider nicht von den Schwachen regiert. Die Evolutionstheorie kennt man zwar. Reduziert sie jedoch darauf, das Leben zu erklären, von den Anfängen bist jetzt. Survival of the fittest. Dass wir die Möglichkeit, ja gottverdammte Pflicht haben, sie hinter uns zu lassen, vergisst man. Jesus, mein Freund. Das hast du gewusst. Und darin liegt dein Heil – für mich. Denn das ist mein Glaube. Mein tiefe Überzeugung. Um mit Leibnitz zu sprechen, leben wir tatsächlich in der besten aller möglichen Welten. Nur vergessen wir das. Oder sagen wir, es wird viel unternommen, um uns vergessen zu lassen.

Die Tür ging auf. In der Halle der Bergkönigs. Die Nachtschwester kam herein. Prüfte den Tropf. Zog seine Decke hoch. Setzte sich auf den Stuhl neben das Bett und begann zu lesen. Peer Gynt im Raum verteilt. In den vier Ecken die Apokalyptischen Reiter.

Epilog:

Der Tod, meine Freunde. Für jemanden wie mich, der das Leben seit jeher vom Ende aus betrachtet hat, war er allgegenwärtig. Nicht ein Tag in den letzten Jahrzehnten, nicht einen einzigen Tag hat es gegeben, an dem ich nicht an ihn dachte. Am Wissen um die Sterblichkeit bin ich letztendlich zugrunde gegangen. Mein Leben lang. Und nun stehe ich hier auf dieser Bühne. Und ihr wollt einen großen Gesang. Wollt wenigstens im letzten Akt einen Helden. Wie jämmerlich muss ich sein, euch das zu versagen. Aber ihr, meine Freunde, ihr, die alles von mir wisst, lückenlos und ohne Vorbehalt, euch kann das nicht wirklich verwundern. Enttäuschen vielleicht. Doch diejenigen unter euch, die weiter sehen, nicht einmal das. Darin lag der Sinn meiner Existenz. Dafür wurde ich geboren. Willenlos in die Welt gepflanzt. Und jede Pflanze kann nur so gut gedeihen, wie ihr Gärtner sie lässt. Der Rest ist Kampf. Und ein Kämpfer war ich nie. Selbst jetzt, am Ende meiner Zeit.

Noch seid ihr da, meine Freunde. Noch stehe ich hier auf Shakespeares Brettern. Noch spielt der Grieg. – Doch ich fühle das Nichts. Wie es mit großen Schleiern über mich kommt. Meiner dunklen Vermutung zum Trotz. Unaufhaltsam. Gewaltig. – Tröstlich. Denn wenn Nichts bleibt, kann nichts fehlen. Und wo nichts fehlt, ist Paradies. Ihr seht meine Freunde, nicht einmal für eine große Philosophie hat es gereicht. Nichts, was nicht schon gedacht wurde. Vor und nach meiner Zeit. Ob es sich gelohnt hat. Wollt ihr wissen. Nun, ich überlasse das Urteil euch.

Peer Gynt war zu Ende. Die Schwester legte das Buch zur Seite und fühlte seine Stirn. Der Atem rasselte schwach. Sie ging in die Küche und machte einen Kaffee. Die Küche war klein. Wenigstens stirbt er zu Hause. Dachte sie. Der Kalender an der Wand lag einen Monat zurück. Als sie wieder in das Zimmer kam, fühlte sie noch seinen Puls. Dann legte sie eine neue CD auf. Richard Strauss. Nahm ihr Buch und setzte sich. Aus der Ferne begannen, die Fanfaren zu rufen. „Also sprach Zarathustra“

© Ulrich P. Hinz


Foto von Francesco Ungaro

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