Da fliegt ein BH vorbei (Kurzprosa)

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Da fliegt ein BH vorbei
(Anders gesagt: Sex sells …)

Wann die Wogen geglättet sein werden, kann man nicht wissen. Unter Vernachlässigung der gegebenen Umstände lässt sich feststellen, dass Wogen eigentlich niemals geglättet werden können. Zumindest nicht vollständig. Man macht sich da was vor. Aber das mit großer Perfektion und einem Erfindungsreichtum, der tatsächlich in so ausgeprägter Form nur bei Menschen zu suchen ist. Unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände sieht es auch nicht viel besser aus.

Protagonist sitzt am Tisch. Trinkt Kaffee. Und weint. Kommando zurück. Trinkt Tee und weint. Anders gesagt, trinkt Kaffee und liest Zeitung. Könnte weinen. Der Kaffe ist heiß. Tee wäre möglicherweise schon kälter. Der Protagonist friert. Er liest keine Zeitung. Aus Prinzip. Starrt stattdessen ins Leere. Aber nur, weil der Blick nach innen geht. Und Außen gibt es bekanntlich keine Leere. Es sei denn in einem physikalischen Experiment. Aber Physik ist kompliziert. Obgleich hochmodern. Wenn auch immer wieder überholt. Bis auf wenige Ausnahmen. Der Protagonist schwindelt. Er möchte aufstehen. Sieht seine Felle davon schwimmen. Was immer das heißen mag. In so einer Zeit. Bleibt sitzen. Ist verliebt in die Sinnlosigkeit. Hochschwanger im Geiste. Kennt die genaue Bedeutung des Wortes stattdessen. Nimmt die Tasse Kaffee. Die eigentlich keine Tasse ist. Fährt mit den Lippen bis an den Rand. Atmet in das Aroma. Trinkt einen Schluck. Stellt die Tasse zurück. Reibt seine Zunge am Gaumen. Und bekommt eine Gänsehaut. Im Frühjahr wird es besser. Jetzt ist Winter.

Aber auch Winter hat seine Vorzüge. Er sieht das ganz eulenspiegelisch. Will sagen, bergab tieftraurig, weil es bald schon wieder bergauf geht. Bergauf todglücklich, weil bergab schon in Sicht ist. Protagonisten mit solchen Empfindungen sind seitenverkehrt. Und das nicht in sexueller Hinsicht. Sie tragen vielmehr ihre Seelen auf links. Und das nicht politisch. Sondern weit darüber hinaus. Ähnlich den Engländern im Straßenverkehr. Im Denken liegt ihr Heil. Denn im Denken ist man bekanntlich unendlich. Zumindest soweit, wie es die Sprache zulässt. Frei nach Descartes. Und wenn man sich daran erinnert, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagen kann, ist selbst die Sprache keine wirkliche Grenze. Der Protagonist reibt sich die Augen. Alle beide zugleich. Angenehmes Gefühl. Wie ein Kratzen am Nichts. So eine Müdigkeit reibt man einfach davon. Jagt sie irgendwohin. Der Kaffee hilft natürlich dabei. Wenn der Protagonist Kaffee trinken würde. Aber das macht er nicht. Denn er steht schon lange vor dem Spiegel. Sieht in sein Gesicht und sagt Ich. Die Blicke wandern vom rechten zum linken Auge. Und wieder zurück. So ein Ich ist schwer zu fassen. Noch schwerer zu begreifen. Du. Das bist du. Du bist das. Jetzt gerade in diesem Moment. Aber Momente kommen und gehen. Die Erinnerungen sind das einzige, was bleibt. Außer bei einem Blick in den Spiegel. Der ist wie eine Tafel in der Schule. Man schreibt sie voll. Kritzel, kritzel. Tocker, tocker. Die ganze Welt dreht sich darum. Dann kommt die Pause. Und der Tafeldienst oder ein neuer Lehrer wischt alles wieder fort. Am besten geht das, wenn der Schwamm richtig nass ist. Von oben nach unten. In guten Streifen. Alles andere ist Beschiss. Bloßes Flickwerk.

Der Protagonist weiß das. Und schließt die Augen. Sieht, wie sich sein Bild langsam aber sicher auflöst. Er könnte lächeln. Aber die weißen Punkte. Sie tanzen so schön. Die schwarze Leinwand. Gesichter tauchen auf. Ziehen vorbei wie Treibgut. Eine Wüste. Als Fata Morgana. Das Flimmern ist echt. So deutlich, dass es ihm angst macht. Immer mehr Szenen. Zeitrafferexplosionen. Wie ein Zappen in Hochgeschwindigkeit. Städte. Berge. Straßenverkehr. Der Countdown läuft. Ten. Nine. Eight. Er kann sich nicht wehren. Seven. Six. Die Semantik versagt. Grammatikalische Strukturen ausradiert. Bilder über Bilder. Five. Four. Three. Reizüberflutung in höchster Vollendung. Two. One. Zero. Zero. Lift-off. Er reißt die Augen auf. Weit. Wie Albert Einstein. Der ihm die Zunge rausstreckt. Durch einen gekrümmten Blick seiner selbst. Der mehr ist als Schatten. Mehr als das Universum vermuten lässt. Sein Herz klopft in den Ohren.

Das Spiegelbild hat sich wieder zusammengesetzt. Es bleiben lediglich ein paar Springbrunnenweisheiten. Ein lustiges Wort. Was immer das heißen mag. In so einer Zeit. Aber Zeiten kommen und gehen. Protagonisten kommen und gehen. Und der hier erinnert sich selbst an Dostojewski. Idioten und Säufer. Spieler und Todgeweihte. Russische Seele in Buchstabenform. Mütterchen Irgendwas. Sei gut zu mir. Und statt Kaffee trinken wir Wodka. Und ertrinken kann man in einer Flasche nicht. Es sei denn, man ist eine Fliege. Der Protagonist steht am Fenster. Der Himmel ist grau. In der Nachbarwohnung lacht ein Baby. Die Wände sind dünn. Ein Wind geht durch die Bäume. Tauben sitzen darin. Lassen sich schaukeln. Dohlen fliegen. Möwen sogar. Obwohl es hier kein Meer gibt. Der Protagonist öffnet das Fenster. 3. Stock. Ein Sprung lohnt sich nicht. Er holt tief Luft. Verzögert den Moment. Stellt sich dem Wind entgegen. Ein herrliches Gefühl. Für einen, der den ganzen Tag drinnen verbracht hat. Der Wind ist stark. Er rüttelt kräftig an den Häusern. Aber die halten das aus. Oberflächlich betrachtet. Quantenphysisch sieht das ganze vielleicht anders aus. Man weiß ja nicht, ob die Kleinsten miteinander reden. Wobei reden ein viel zu profanes Wort dafür ist. Ein Stein hat keine Seele. Sagt der Volksmund. Aber was kann ein so großes Maul wirklich wissen.

Da fliegt ein BH vorbei. Der Protagonist schaut zweimal hin. Bleibt dabei. Ein BH. Der wird vom Wind durch die Straßen getragen. Standardgröße. Was immer das bedeuten mag. Und plötzlich steht der Protagonist auf der Kirmes. Im Duft von Zuckerwatte und gebrannten Mandeln. Das Heulen der Karussells. Stimmenflimmern und Menschenstrom. Mikrofonansagen plus laute Musik. Illusion perfekt. Die Augen geschlossen. Im Vorübergehen aufgeschnappt. So ein Duft legt sich über die ganze Stadt. Bleibt ein paar Tage hängen. Und zieht dann weiter. Heute Abend wird es das Feuerwerk geben. Sehen kann man von hier nichts. Aber hören. Deutlicher als einem lieb ist. Wenn das pulsierende Leben von draußen an die Fenster klopft. Bekommt so ein Protagonist ein schlechtes Gewissen. Seit Jahren nimmt er sich vor, mal wieder da hin zu gehen. Er schließt das Fenster. Seine Gedanken beginnen damit, Englisch zu sprechen. Well … Das kommt vor. Er kann es nicht steuern. This is the kitchen. He is in the kitchen. Das mit dem kitchen ist eins der ersten Worte, die er gelernt hat. Fünfte Klasse. Er weiß es wie gestern. Die Lehrerin war nett. Kommt rein, und redet so komisches Zeug. Was keiner versteht. Aber alle amüsieren sich darüber. I am Mrs. Smith. Eine seltsame Faszination lag in dieser Stunde. So ein Kribbeln. Und sie werden in fremden Zungen sprechen … Die erste Klausur hat er total versiebt. Erst in der zweiten eine Eins. Und so weiter. Er liebt diese Sprache. Hat aber keine Ahnung warum. Kann sich nicht daran erinnern, jemals ein Engländer gewesen zu sein. Dabei glaubt er gar nicht an Wiedergeburt. Und all diesen Quatsch. Von den Sternen betrachtet, braucht man vielleicht ein Elektronenmikroskop oder Teleskop. Um ihn zu sehen. Er selbst sieht sich in Standardgröße. Für eine Ameise ist er ein Gebirge. Das alles führt doch zu nichts. Er schließt das Fenster. Die Gedanken beginnen zu lachen. Das Fenster ist bereits geschlossen. Er stellt sich davor und drückt seine Stirn gegen die Scheibe. Ein gutes Gefühl. Jedenfalls für einen kurzen Moment.

 

© Ulrich P. Hinz

 

Foto von Castorly Stock

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