Der blaue Winterhimmel lag über den Feldern. Gelegentlich weiße Wattewolken. Eine schlechte, einspurige Straße quälte sich durch die Landschaft wie ein alter Flickenteppich. Die Felder voller Dohlen. Seltsam für November, dachte er. Die Luft war rein und klar. Sein Atem dampfte. Der erste Schnee wird bald kommen. Auf jeden Fall ist der Winter nicht mehr zu verleugnen. Schnee hin oder her.
In einiger Entfernung stand ein Baum, der aussah, als würde er große, schwarze Früchte tragen. Von irgendwoher bellte ein Hund. Die Welt wirkte falsch. Erinnerte eher an ein Gemälde von Caspar David Friedrichs. Auch wenn er die Kälte fühlte. Den Atem sah. Seine Schritte setzte. In der Bewegung liegt die Zeit. Kam er dem Baum, oder der Baum ihm näher? Die Frage stellt sich nicht, für einen Mann der geht. Früchte im November. Schwarz. Dohlen natürlich. Große prächtige Tiere. Ihre Stimmen klingen vertraut. Mehr als bloße Onomatopöie. Er blieb stehen. Einige der Tiere fixierten ihn. Nicht lange. Wie schnell man doch die Angst vor dem Harmlosen verliert. Er zog eine Zigarette aus der Manteltasche. Sein Feuerzeug brauchte sieben Anläufe. Die Krähen lachten. Ließen ihn ziehen. Ohne Gewissen.
Die Sonne war ein gutes Stück tiefer gerutscht. Er hatte ein schlechtes Gefühl dabei, seine Zigarette in die Landschaft zu werfen. Aber Aschenbecher gab es hier nicht. Ein Wald über dem zwei Ballone aufstiegen. Das Fauchen der Gasflammen hatte seinen Blick zum Himmel gezogen. Leichter als Luft. Schwerer als Welt. Ein alter Freund tauchte auf. In Gedanken. Erst flüchtig. Dann drängte sich das Bild rücksichtslos vor das geistige Auge. Er nahm die Ballone war, sah den Freund, fror beides ein, folgte den Gedanken. Junge Kerle waren sie damals. Das Leben lag vor ihnen, wollte erobert werden. Träume. Hoffnungen. Ziele. Gemeinsam ließen sie die Jugend hinter sich. Um dann getrennte Wege zu gehen. Ohne böse Absicht. Dem Leben folgend. Begleiter auf Zeit.
Ein herankommendes Auto drängte ihn an den Straßenrand. Anlieger frei heißt es hier. In der letzten Nacht hatte er geträumt von diesem Freund. Das Straßenprofil ist nicht gut für die Reifen. Den Dohlen ist es egal. Die Ballone steigen schnell. Das Fauchen der Flammen kaum noch zu hören.
Das Auto war verschwunden. Die Erinnerungen verdrängt. Der späte Nachmittag stand im Himmel. Er hatte den Wald erreicht. Viele Leute nehmen um diese Zeit Kaffee und Kuchen. Aus der Ferne krachten einige Schüsse. Zerteilten die Luft. Hallten nach. Ein leichter Wind zog auf. Vor einer kleinen Gedenkstätte machte er Halt. Der sterbende Jesus blickte ihn an. Die flackernde Kerzenflamme war klein. Warum das hier stand, wusste er nicht. Zwei Blumensträuße lagen vor dem Kreuz. Wohl schon länger. Er nickte dem Heiland zu, bevor die Straße ihn weiter zog.
Die Dämmerung begann zu drohen. Die roten Wolkenstreifen wie billiger Reklameschund. Falsch. Eine großartige, wunderbare Fälschung. Es war gar nicht lange her, da blühte hier der Klatschmohn. In der Veränderung liegt die Zeit.
Er bog in einen Waldweg ein. Der Boden war weich. Rechts und links Teppiche aus braunen Blättern. Kehren zurück in den Kreis. Die Jahreszeit fordert ihren Tribut. Er liebte diese Blätter. Schaute auf die Bäume. Ein Ameisenhügel am Rand war noch zu erkennen. Diese Ameisen sind schon ein seltsames Volk. Eine perfekt funktionierende Monarchie. Absolutistisch aufgebaut. Er setzte weiter Schritt auf Schritt. Blätter raschelten. Die blaue Stunde stand bevor. Das letzte Aufglühen des Himmels. Bevor das Schwarz der Nacht ihn überkommt. Er liebte diese blaue Stunde. Kannte sie abends wie morgens. Morgenstern und Abendstern. Mag es auch ein und derselbe sein. Sogar wenn es täglich ein anderer wäre. Oder tatsächlich nur ein Gemälde. Diese blaue Stunde ist groß. Sie ist heilig.
Er war gut durchkühlt. Doch er fror nicht. Eine jener Kälten, die gesund scheint. Die, wenn man einen warmen Raum betritt, genüsslich aus dem Körper schwebt, um sich dann in der Umgebung zu verteilen, bevor sie sich gänzlich auflöst. Eine Melodie ging durch seinen Kopf. Den ganzen Tag über. Immer mal wieder. Klopfte an seine Gehirnrinde. Hämmerte geradezu. Nach ihrem Rhythmus setzte er jetzt seine Schritte. Einen nach dem anderen. So wie es sich gehört. Wenn man nicht gerade ein Tänzer ist. Oder es nicht zu schnell dämmerig geworden wäre. Eins zwei drei vier. Links zwo drei vier. Tanzpalast und Kaserne. Komm se näher meine Herrn.
Der Weg führte direkt auf eine Landstraße zu. Das Vorbeifahren von Autos war schon zu hören. Immer noch tauchten Bilder der vergangenen Nacht in ihm auf. Gefährliche Vermischung von Welten. Grenzüberschreitung. Viele Menschen leiden nachts unter ihren Träumen. Bei ihm war es anders. Die Landstraße kam näher. Schon sah er die Lichter der vorbeifahrenden Autos. Wie Feuerpfeile zischten sie. Wo fängt die Wirklichkeit an? Die Melodie hatte sich verflüchtigt. Seine Füße waren schwerer geworden. Das Ende des Waldes stand kurz bevor. Im Sterben liegt die Zeit. Natürlich könnte er sich noch einmal umdrehen. Zurückblicken. Vielleicht sogar in der Hoffnung, die Welt würde sich so für ihn drehen. Wie man in den Wald hineinruft. Aber er rief nicht. Ließ lediglich Gedanken, Bilder und eine Melodie zurück.
Sein Wagen wartete am Waldrand. Direkt neben dem Weg. Ein schmaler Streifen Niemandsland. Zwischen Landstraße und Wald. Zum Parken ideal. Als Grenze für wechselndes Wild nicht geeignet. Er öffnete die Fahrertür. Stieg ein. Zog die Tür zu. Steckte den Schlüssel ins Zündschloss und legte die Hände auf das Lenkrad. Sein Kopf war voll und leer. Er ließ ihn auf seine Hände gleiten. Die Augen zu. Doch die Bilder hörten nicht auf.
Er startete den Wagen und fuhr zurück in die Stadt. Die blaue Stunde hatte begonnen.
© Ulrich P. Hinz
Foto von Daisy Laparra